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27 Sonntag, 12.04.2020

Es ist wichtig, eine Routine beizubehalten und den Tagen ihren Rhythmus zu geben. Unter keinen Umständen sollte man damit anfangen, die Körperpflege zu vernachlässigen.
Aufstehen, Wasser lassen, Hände waschen, Zähne putzen, Zahnseide benutzen, Hände waschen, rasieren, duschen, Haare waschen, abtrocknen, Feuchtigkeitscreme ins Gesicht, Haarwasser in den Nacken, Hände waschen, anziehen, Hände waschen – so, und jetzt ab nach Hause!

Mir schwebt vor, moderne Märchen zu erzählen. Sie handeln von Technologie und unserem ohnmächtigen Umgang damit, also davon, wie sie unser Leben durchdringen und bereichern und verkomplizieren, auch verstörende Elemente müssen darin Platz finden. Jedes Märchen soll beginnen mit Es war einmal – der Einstiegsphrase ins aufmerksame Träumen.

Hat der Arzt-Freund einen freien Tag, dann schraubt er an seinem Kombi herum, der älter ist als er selbst. Derzeit versucht er, das Autoradio zum Laufen zu bringen, was noch nicht so recht hinhaut. Der Anwalts-Freund scherzt, dass sich wahrscheinlich nur ein bestimmter Mainstream-Sender einstellen lasse. Ich wiederum spekuliere, dass man jetzt wohl das Radio benutzen, dafür nicht mehr fahren könne. Der Arzt-Freund winkt erledigt mit einer Flasche Weißwein. Er sagt, dass er uns alle umarmen möchte. Ich sage, dass mir im Mai die Regeln dann egal sein werden.

Gedanken reisen schneller als das Licht.

Ich erfinde ein mögliches Haus. Darin leben drei Brüder mit ihrem Vater, der eine sanfte Autorität ausstrahlt. Es werden deftige Fleischspeisen gekocht und am Holztisch serviert; oft Huhn, Lamm oder Steak. Die Männer schauen gemeinsam Filme, aus denen sie eloquent zitieren. Einer kann Gitarre spielen. Sie sind einander ähnlich, auch beim Bartwuchs oder im Profil.
Der Kühlschrank ist versiegelt, an der Käselade wacht ein molliges Vorhängeschloss. Den Schlüssel hat der Vater, und gibt ihn selten her. Es gilt, Rätsel zu lösen. Die Bierflaschen sind abgezählt. Früher wohnte hier noch eine Frau, doch sie ist lange fort, geblieben ist ihr erdiger Duft. Es regnet gern im Haus. Dafür braucht es keine Wolken, das Wasser tropft ganz beiläufig von der Decke und verschwindet ohne Flecken im Boden. Man kann sich damit arrangieren.
Ich weiß von der Familie nur Details, und nicht das große Ganze. Ich kann ihre Mitglieder aneinanderreihen, sie chronologisch ordnen oder räumlich sortieren, in Beziehung zueinander setzen. Und doch umschwebt das Haus ein unergründliches Geheimnis, dem nicht auf die Spur zu kommen sein wird. Ich möchte es gerne besuchen.

Es ist Ostern. Die Entscheidungen der Menschen werden wir in zwei Wochen als Kurve nachvollziehen können. Zahlen lügen nicht. Wie viel Familie darf nicht, wie viel muss aber sein? (Mein erster Ostersonntag ohne angeregte Nestsuche. Selbst als Erwachsener habe ich darauf bestanden. Als Kind wollte ich auch die Geburtstagsgeschenke versteckt bekommen. Finden wollte ich sie möglichst ohne heiß und kalt. Wer in meine Wohnung kommt, würde nicht merken, welcher Tag heute ist; nicht einmal ein gekochtes Ei liegt wo herum, geschweige denn ein buntes. Mit diesem Zustand bin ich einverstanden, ja, sogar seltsam zufrieden. Ostern ist überbewertet.)

Manchmal erzählen Freunde, dass sie mit dem von ihnen eingeschlagenen Lebensweg hadern. Sie fragen mich um Rat, ob sie sich beruflich verändern, den vorgegebenen Pfad verlassen sollen, um auszuscheren in unbekanntes Terrain. Sie erwarten, dass ich sie ermutige, stur weiterzumachen, genau dort zu bleiben, wo sie sind. Die Freunde erhoffen sich Durchhalteparolen; dass ich ihnen versichere, eine Veränderung der äußeren Umstände bewirke nicht unbedingt größere Zufriedenheit im Alltag. Ich soll ihren Zweifel kleinreden. Stattdessen sage ich: Brich ab, schmeiß hin, scher aus – begib dich in Gefahr! Pupp dich ein und bring dich neu zur Welt. Die Freunde sind von meiner Art der Hilfe wohlig entsetzt.

Traumbild: Ich betrete eine provisorische Krankenstation. Es ist eines jener Notquartiere, wie sie während der letzten Wochen in einigen Ländern über Nacht hochgezogen wurden. Man konnte es oft in den Nachrichten sehen. Wahrscheinlich befindet es sich in einem Sportstadion mit geschlossenem Dach. Im Eingangsbereich herrscht reges Treiben. Auf den meisten Feldbetten sitzt jemand mit baumelnden Füßen. Wie Kinder, denke ich. Auch ich setze mich auf eines der Betten und warte. Ein Arzt begutachtet mich. Ich öffne den Mund, strecke die Zunge heraus. Der Arzt krümmt sich mir entgegen, sein Blick geht tief. Zuerst gibt er Entwarnung, doch dann wird er stutzig. Ich bleibe unbeeindruckt und nenne den Ort Lazarett.
Der Arzt winkt eine Kollegin herbei, um sich von ihr seinen Eindruck bestätigen zu lassen. Sie nickt ernst. Er nimmt eine Pinzette und fährt grob in mich hinein. Ich sehe den Vorgang aus dem Inneren meines Rachens. Die Spitze der Pinzette schabt etwas frei, es ist klein und grau. Der Arzt holt es heraus und hält es mir triumphierend vor die Augen. Ein längliches graues Korn, sinnlos und weich. Ohne dass es mir jemand sagt, weiß ich, dass dort noch andere sein könnten. Doch ich mache mir keine Sorgen, weil ich weiß, dass es normal ist. Es endet mit der Erinnerung, dass die Pinzette gefährlich war, und die Halshaut sehr zart. Man muss auf sie achtgeben, weil man keine zweite bekommt. (Schöne Traumbilder gehören nur sich selbst.)

Ein Buch aus der Sicht eines Buches. Wie es geschrieben wird, ob es sich dagegen sträubt. Der Autor könnte eine interessante Person sein. Er macht Fehler und verliert die Kontrolle. Im Buch erwachen Kräfte, womöglich ändert es über Nacht eigenhändig bestimmte Stellen, die ihm nicht zusagen – das Buch schreibt sich um. Es beginnt ein Machtkampf. Mit dem Buch ist nicht zu spaßen. Es wächst über sich hinaus, folgt seinem eigenen Kopf, entwickelt seine eigenen Ansprüche an sich selbst. Das Buch erzählt von seiner Entstehung in der ersten Person. Gab es das schon? Ich bin das Buch, sagt es. Das wäre schon ein guter erster Satz. Wie geht es aus? Das Buch vernichtet den Autor. Es braucht ihn nicht mehr und gehört nur sich selbst. Dieses Buch trägt den Titel Das Buch.
*
Ein Buch über das Schreiben eines Buches. (Das gab es sicher schon.) Jemand schreibt daran. Leute fragen, was er denn so mache, gerade jetzt und überhaupt den lieben langen Tag. Jemand antwortet wahrheitsgemäß, dass er am Buch schreibe. Auch in diesem Moment?, fragen die Leute ungläubig. Ja, sagt jemand, besonders in diesem Moment. Die Leute wollen wissen, wovon das Buch eigentlich handelt. Jemand antwortet, dass es darum gehe, wie das Buch entsteht, also um das Schreiben selbst sowie um alles rund ums Schreiben. Auch das hier, dieses Gespräch über das Buch werde darin vorkommen. Wirklich?, fragen die Leute erstaunt. Ja, sagt jemand, dieser Wortwechsel inklusive der erstaunten Nachfrage werde in voller Länge darin Einzug finden. Arg, sagen die Leute. Jemand nickt und merkt sich: Arg. Dieses Buch trägt ebenfalls den Titel Das Buch. (Es sind zwei verschiedene Bücher.)

Zettel an einem abgesperrten Würstelstand:
Liebe Einbrecher !!!
ES BEFINDEN SICH WEDER
GELD NOCH
WERTGEGENSTÄNDE IM
LOKAL.
BITTE ERSPAREN SIE IHNEN
UND AUCH UNS UNNÖTIGEN
ÄRGER.
VIELEN DANK
EUER IMBISS TEAM
*
Die höfliche Anrede empfinde ich als äußerst charmant, jedoch ist mir das „IHNEN“ suspekt. Würde ein beigefügtes „SELBST“ daran etwas ändern? Versehentlicher Zweizeiler:
Lässt dich das Sprachgefühl im Stich
Reicht zweifelsfrei ein schlichtes „SICH“
Schade auch, wie das Team bei der Verabschiedung zum kumpelhaften „EUER“ umschwenkt. Der Würstelstandzettel erzählt etwas; und er selbst ist die ganze Geschichte.

Ein in Mielke (ehemals Reichsgau Wartheland) geborener und in der Nähe von Hannover gemeinsam mit drei Geschwistern aufgewachsener General a. D., Vater dreier Kinder, ehemaliger Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, ehemaliger Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, ehemaliger Ordonanzoffizier des Verteidigungsministers, ehemaliger Dezernatsleiter des Luftwaffenunterstützungsgruppenkommando Nord in Münster, ehemaliger Referent für Sicherheitspolitik und Strategie im Bundeskanzleramt sowie ehemaliger Referatsleiter im Führungsstab der Streitkräfte in Bonn (zuständig für nukleare und weltweite Rüstungskontrolle), Träger des Kommando-Kreuzes der französischen Ehrenlegion und anderer Medaillen, derzeit Berater in Fragen der langfristigen militärischen und verteidigungspolitischen Grundlagenplanung, Präsidiumsmitglied beim Internationalen Wirtschaftssenat, Aufsichtsrat eines Waffenherstellers, Gründungsmitglied einer russlandfreundlichen Denkfabrik, gern gesehener Talkshow-Gast und Interviewpartner, umstrittener Kommentator des Weltgeschehens und glaubwürdiger Brillenträger nennt den Irak ein instabiles Land in einer instabilen Region.

Am Schwedenplatz kriegt man Eis. Der Salon selbst hat zwar geschlossen, doch es gibt Straßenverkauf. Ein paar Leute sind bereits angestellt, und weitere gehen unschlüssig dazu. Verwunderung, dass es erlaubt ist; und warum es den Betreibern dann nicht andere gleichtun. Ein Eis, das wäre es jetzt – bei der Sonne! Doch es kommen fragende Gesichter. Manche verlassen die Schlange und gehen weiter. Was genau geht hier eigentlich vor?
Weder Tüten noch Becher werden ausgegeben, sondern lediglich Styroporboxen. Kein Unterwegs-Eis ist zu haben, bloß welches für zu Hause. Die meisten jedoch wollen gemütlich weiterspazieren und nicht sofort nach ihrem Kauf den Heimweg antreten. Nur für wenige ist das eine praktische Lösung. Die meisten lassen es bleiben.
Später frage ich mich, ob das Eis am Schwedenplatz womöglich verschenkt wurde, zum Beispiel, weil es sonst schlecht geworden wäre. Ich bin dort nicht lange verweilt und kann es nicht mit Sicherheit sagen.

Jede Stadt: Irgendein Ort, der nicht New York ist.

In der Wollzeile kommen Leute aus einer Konditorei. Durch die offene Tür sieht man eine Vitrine mit Kuchen und Torten. (Was ist der Unterschied, außer als Wort?) Dahinter steht eine Dame, die mit der ersten Sekunde mütterliche Wärme ausstrahlt. Sie wirkt gelassen besorgt und lächelt die Menschen herein. Man hört die Kunden staunend flüstern. Nachdem sie die Konditorei wieder verlassen haben, tuscheln sie verschworen die Wollzeile entlang, als hätte man sie gerade bei etwas nicht erwischt. Als sei es ein geheimer Ort für Schwarzmarkt-Schokolade. Nur engen Freunden erzählt man davon; wie im Krieg. Ich gehe nicht hinein.
Ein paar Meter weiter ein geöffnetes Süßwarengeschäft. Hier bilde ich mir ein, dass es sonntags noch nie offen hatte, da es sich ja nicht um Gastronomie handelt, sondern rein um Verkauf. Ein Mann berät. Das Geschäft ist bunt und selbst nach außen hin anstrengend hell. Ich gehe nicht hinein. Die Wollzeile ist lang.

– Komme ich eigentlich in deinem Notizbuch vor?
– Nein, keine Sorge.
– Das will ich dir auch geraten haben!

Der gedankliche Soundtrack zu meinem Nachtspaziergang stammt von Hans Zimmer. Es dröhnt vor Bedeutung.

Im Kopf rastet etwas ein – genau so hat es dann stattzufinden. Und wenn nicht?