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25 Freitag, 10.04.2020

Dein Zuspruch hat mir ja gerade noch gefehlt!

Die Stadt weiß alles über mich – gerade im Frühling.

Über einen Wiener Underground-Künstler heißt es wo: Er lebt in einem Männerheim und sammelt Lokalverbote. (Da merkt man erst, wie langweilig man selbst eigentlich ist.)

Die Obendrüberwohner haben Besuch. Der Husterich und seine leidgeprüfte Frau. Man hört das Kindergetrappel der Enkel. Bald spielt es von oben unsanft Klavier. War es so gedacht? Das ist deren Sache, denke ich, hier greift die angemahnte Eigenverantwortung. Es betrifft mich zwar indirekt – doch es geht mich ganz bestimmt nichts an.

Mein Lieblingsmaler ist der deutsche Meisterfälscher Wolfgang Beltracchi. Ich liebe es, wie er da sitzt, mit seinem gesunden Bauch und der Silbermähne, die sein lausbubenhaftes Gesicht umlockt. Er schafft Bilder, die es gegeben haben könnte, schließt im bestehenden Werk des Künstlers eine Lücke – sie steht für die Möglichkeit, diese zu schließen.
Beltracchi verstaut sich viel Haar hinterm Ohr. Ihm beim Malen zusehen und denken: Jeder sollte etwas haben, das ihn so sehr bei sich sein lässt. Welche Gelassenheit ein solcher Mensch ausstrahlt, der ganz genau weiß, wer er ist und was er kann; richtiggehend belustigt von der eigenen Fähigkeit. Und der auch nur deshalb in sich ruht, weil eine symbiotische Verbindung zu seinem Lebensmenschen besteht. (Der geborene Fischer erhielt mit der Heirat einen würdigen Malernamen)
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Als Lene dahinterkam, was ihr Mann da insgeheim trieb, wurde sie Teil des Spiels und half Werke in den Markt einzuschleusen. Da raste der Puls in Pariser Hotels. Es hagelte Expertisen, die den hochbezahlten Kennern nach wie vor den Schlaf rauben müssen. Nach Jahrzehnten wurden die beiden erwischt. Das Zinkweiß brachte sie zu Fall, denn in der Tube waren Spuren von Titanweiß, das zur behaupteten Entstehungszeit des Bildes noch nicht existierte. Die Gefängniszeit war eine Hölle mit Briefen. Beltracchi verewigte Mithäftlinge. Heute lebt er seine Kunst offen aus. Betritt er ein Museum – wenn man ihn lässt – begegnet er oft heimlich seiner Arbeit und behält es für sich.
Ich denke innig an ihr Lebensabenteuer. (Gibt es das – sich zuversichtlich erinnern?) Lene sagt: Du, wir bräuchten dann mal wieder ein Milliönchen. Und er malt ein neues Bild. Die Erzähung des Meisterfälschers Beltracchi ist eine Liebesgeschichte.

Sich langsam mit seinen kalten Füßen anfreunden.

Allgemein bekannt, dass das wichtigste Werk eines Künstlers jeweils das von ihm gelebte Leben ist.

Zwei Polizisten nachts beim Schaufensterbummel. Sie bleiben stehen vorm Juwelier. Wahrscheinlich aus Gewohnheit sehen wir uns die gut beleuchtete Glitzerware an, obwohl wir ja gerade nichts davon kaufen dürfen. Es sind Polizist und Polizistin. Er macht ein paar Schritte zur Seite und deutet auf etwas. Ich stelle mir vor, dass sie zusammen sind. Ich höre ihn sagen: Schatz, was meinst du, vielleicht der? Und zeigt auf einen Ring. Er sagt es nur in meinem Kopf.
Sehe ich eine gegengeschlechtliche – gemischte – Streife, dann denke ich sofort: Das ist ein Paar! Verbunden und verbündet im Beruflichen wie im Privaten. Dabei stimmt es oft nicht. Aber wer weiß, denke ich, vielleicht finden die zwei ja zusammen. Ich wünsche es ihnen.
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Der Blick der Polizistin streift mich kurz, doch ich spüre es kaum. Sie weiß, dass ich ein Verrückter bin, mit meinem Notizbuch, in das ich rastlos Unsinnssätze kritzle, sie erkennt, dass von mir keine Gefahr ausgeht und man mich lassen muss in meiner Nacht. Auch der Polizist blickt kurz herüber und verspricht sich nichts von mir. Sie denken, dass ich etwas anderes festhalte als ihre Blicke auf mich. Niemand erkennt in mir den Mitternachtsdetektiv, der ins Blaue hinein ermittelt. Wir bleiben auf Distanz.
Sie gehen weiter in einem wirklich zurückgenommenen – fast zurückgelehnten – Schlendertempo. Die Stadt lässt sich Zeit, und irgendwo gehören wir schon hin. Die Streife macht gelassen ihre Runde. Ich nehme die Verfolgung auf.

Wie kann irgendwer jemandes Vorgesetzter sein, jemanden überwachen und zurechtweisen, jemanden mit etwas beauftragen und eine ebenso gewissenhafte wie zeitnahe Erledigung einfordern, und bei enttäuschendem Arbeitseifer seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, im schlimmsten Fall sogar das Dienstverhältnis auflösen? Wie können Hierarchien funktionieren? Wie gibt es Büros? Wie geht das – Welt?

Der Mistkübelmann wohnt in seinem Mistkübelhaus, man sieht es ja am rauchenden Kamin. Manchmal finstern seine Augen böse aus dem Guckloch hervor, in das die Leute ihr Wurstsemmelpapier oder ihre Energydrinkdose werfen. Er ist geduldig mit uns. Jemand löscht.

Menschlichkeit muss gepaart sein mit einem gewissen Beharrungsvermögen, das einen keinen Millimeter zurückweichen lässt. Bei mir ist es damit nicht weit her, denn ich weiß nur zu gut, dass es anderen viel schlechter geht als mir selbst, doch ich habe im Moment andere Sorgen und lasse es zu.

Ein Paar, bei dem anfangs beide recht mollig sind. Irgendwann aber nimmt sie stetig zu, er wird aus Protest immer dünner. So gleicht es sich aus. Ich ahne voraus, dass eines Tages sie ein unförmiger Fleischberg geworden ist, und er komplett verschwunden sein wird.

Vortragende streuen gern das Wort sozusagen ein, oft nuscheln sie es arg herunter, dass es wie sozang klingt. Bald wird es als eigenständiges Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen und im Wörterbuch zu finden sein: Sozang.

Immer wieder der schwache Moment, wenn ein Entscheidungsträger zum Volk spricht, danach zu Hause an die Schulter seiner Frau sinkt und eingesteht: Ich weiß nicht, wie es weitergeht, ich weiß es einfach nicht. (Allein, dass ich als Bild unweigerlich den männlichen Politiker vor mir habe, der sich an seiner Partnerin ausweint, die ihn mit fraulicher Wärme umfängt, zeigt ein Problem. Immer sehen wir sie aufgereiht – in unserem Fall mehr oder weniger vier Stück – wie sie ihre wichtigen Sachen erzählen. Selten eine Politikerin oder Expertin. Es ist Symptom einer gestrigen Männerkultur, die wir noch viel zu wenig abgeschafft haben. Aber Zeit wäre es.)

Bei der Post habe ich ein Paar gesehen. Beide trugen ein Halstuch ums Gesicht wie in einem Western die Bösen vorm Banküberfall. Oder wie Cowboys im Fasching. Man hat ihnen angemerkt, wie viel Spaß es ihnen macht, sich zu verkleiden. Ihr macht halt das Beste, aus dem ganzen Corona, habe ich mir gedacht; dankbar, dass es sie gibt. Die beiden waren Komplizen. Mit ihren zwei Tüchern haben sie fein zusammengehört, und darunter bestimmt gelächelt. Das war schön. Manche Dinge sind ganz einfach, und man erkennt sie daran, dass es darüber nicht viel zu sagen gibt.

Großzügig ausgespart in der familienfreundlichen Berichterstattung des Österreichischen Rundfunks bleiben Fragen der Intimität und der Sexualität. Kontaktsperre bedeutet, niemanden treffen zu dürfen in einem Lokal auf ein Getränk, geschweige denn jemanden kennenzulernen und zu küssen oder mehr. Im heldenhaften Beschließen der Beschränkungen wurde ein Geselligkeitsverbot ausgesprochen. Mit dem Aufrechterhalten und Durchsetzen, mit dem Verhängen von Ordnungsstrafen für die Abweichler, tritt ein verstecktes Beischlafverbot für Partnerlose in Kraft.
Die Minister sagen: So und so wird es sein. Und für die Alleinstehenden heißt es: Du bist gemeint. Die Minister sagen: So und so lange wird es dauern. Und für die Alleinwohnenden heißt es: Bis dahin harre aus. Ein verklausuliertes Berührungsverbot, an das niemand sich halten kann, wer geistig und seelisch halbwegs gesund bleiben will. Die meisten der Entscheidungsträger leben in gefestigten Partnerschaften in gemeinsamen Haushalten oder einem Familienverbund. Europa ist ein reicher Kontinent; Merkmal dieses Reichtums ist eine räumliche Vereinzelung.
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Laut Eurostat liegt der Anteil von Single-Haushalten im EU-Durchschnitt bei 33,1 Prozent. Schweden hat mit 51,8 Prozent den höchsten Anteil. Dahinter folgen Litauen (43,3 Prozent), Dänemark (42,6 Prozent), Finnland (41,0 Prozent), Deutschland (40,5 Prozent), Estland (37,5 Prozent), die Niederlande (37,1 Prozent) und Österreich (37,0 Prozent). Die Daten sind vier Jahre alt. Es ist davon auszugehen, dass der Trend zum Single-Haushalt seitdem nicht nachgelassen hat.
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Der Gesundheitsminister sagt: Soziale Kontakte einschränken. Er meint: Nicht umarmt werden dürfen. Der Bundeskanzler sagt: Monate. Er meint: Nicht umarmt werden dürfen. Der Bundespräsident sagt jovial: Wir machen das schon. Er meint: Nicht umarmt werden dürfen. Der Innenminister sagt: Die Polizei wird kontrollieren, ob Menschen zusammen wohnen. Er meint genau das.
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Ich denke weniger an die Jungen, die Mittel und Wege des Zusammenseins finden. Ich denke mehr an die älteren Alleinstehenden, an die Geschiedenen, an die unfreiwilligen Singles, denen es ohnehin schwerfällt, nicht den Anschluss zu verlieren. Ich sehe die Fünfzigjährige in ihrer Wohnung sitzen, der man das wöchentliche Kartenspielen und den Tanzabend genommen hat. Ich sehe den Siebzigjährigen aus dem Fenster schauen, der beim Seniorensingen immer einen so satten Bass gebrummt hat. Man hat es ihnen genommen. Mag sein, aus guten Gründen, doch genommen ist es doch. Ein Begegnungsverbot wird die Vereinsamung schüren.
Noch habe ich nichts davon gehört, dass sich die Regierung neben Medizinern und Volkswirten auch Psychologen in den Beraterstab geholt hat. Wahrscheinlich habe ich es verpasst. Manches entgeht einem eben, wie aufmerksam man auch versucht zu sein. Denkbar ist, dass es beim Organisieren des Corona-Zölibats sachkundige Hilfe von Vertretern der römisch-katholischen Kirche gab. (Wem schicken wir die Rechnung für den Knacks? Wer führt die Strichliste beim Incel-Amok? Wohin tanzt du deinen Frust, wenn nicht in den nassgeschwitzten Club?) Wie leidenschaftlich wir manches beschweigen. Wie kenntnisreich wir vieles überspielen.
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Ich sehe liebenswerte Familien, die kreativ den neuen Alltag schupfen. Ich sehe Digital Natives, die in Gruppenchats mit Drinks anstoßen. Ich sehe gelungene Experimente. Ich sehe erbauliche Einblicke in zweisame Nähe. Großzügig ausgespart in der familienfreundlichen Berichterstattung des Österreichischen Rundfunks bleiben Fragen der Intimität und der Sexualität. Und auch wir wollen diese Fragen großzügig aussparen.

Uns allen werden aus dieser Zeit starke Erinnerungen bleiben. Dinge brennen sich uns ein, ob wir es merken oder nicht. Jetzt geht es darum, welcher Art diese Erinnerungen sein werden. Gerade Eltern sind gefordert, dafür zu sorgen, dass es mehr positive als negative sind, dass sich den aufnahmebereiten Kindergehirnen und erschütterungsempfänglichen Kinderseelen eine zwar seltsame und schwierige, doch insgeheim spannende und gemeinsam gemeisterte Zeit einprägt. Wie es schaffen? Ich weiß nicht: Es schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Erinnerungen an die Gegenwart möglichst hell und erbaulich bleiben; prägend und stark sein werden sie ohnehin.

Die U-Bahn ist mein Zuhause. Der Mittvierziger entwirrt sein Kopfhörerkabel, das er bei einer tragbare Spielkonsole einstöpseln will. Während des langwierigen Vorgangs schüttelt er andächtig den Kopf. Sein tägliches Geduldsspiel.

Sich am Bahnsteig bei einem Menschen dazustellen – wie als Frage.

Es gibt mehr Wörter, als gut für uns ist.