Kategorien
Allgemein

24 Donnerstag, 09.04.2020

Eine weißhaarige Frau zu mir in der U-Bahn: Gehen Sie vom Eingang weg, wie kann man da aussteigen? (Ich stehe an der Wand neben der Tür. Hier war doch immer mein Platz.)

Draußen auf der Straße beginnt Musik. Ein Mann spielt Gitarre und singt. Ich eile zum Fenster, kurble die quergestellten Lamellen der Jalousie hoch, um mich hinauslehnen zu können. Aus dem fünften Stock erkenne ich durch die Baumkrone eine vielteilige Sängergestalt. Der Mann steht am Gehsteig. Er singt O sole mio. Ich kenne das Lied aus dem Stadtpark, es ist mir bis hierher gefolgt. Der Mann singt es für mich. Auch im Gegenüberhaus lehnen sich ein paar Leute aus dem Fenster. Unten am Gehsteig erkenne ich zwei Frauen, die stehengeblieben sind. Der Mann singt frei und laut. Er macht das öfter, schätze ich. Wir hören zu. Selbst als das Lied seinem Höhepunkt zusteuert, die Töne besonders hoch werden, bricht seine Stimme nicht. Mag sein, dass er es für mich singt, denke ich, aber gehören tut das Lied ihm.
Als er fertig ist, klatschen wir hinunter, und die zwei Frauen klatschen auch, und beginnen ein Gespräch. Stolz, ihn in unserer beschaulichen Straße zu haben. (In Sackgassen passiert ja nicht so viel.) Der Mann blickt sich um und winkt hinauf. Aber bitte nur Centstücke werfen, lacht er, Zweier tun so weh. Ich werfe kein Geld nach ihm, das wäre obszön. Niemand tut es, war ja auch nur ein Scherz. Er plaudert angeregt. Die Baumkrone zerschattet ihn.
Eben noch war ich so müde, dass ich fast vom Stuhl gerutscht wäre; so wie gestern schon. jeden Moment wollte ich aufstehen und mir kaltes Wasser ins Gesicht klatschen, um mir die Augen zu löschen. Jetzt bin ich hellwach. In der Küche wartet der Abwasch, an den Bodenleisten nistet der Staub. Nichts davon werde ich angehen, denn nichts davon ist wichtig. Es gibt eine Arbeit, die getan werden muss. Der Tag hat einen Raum und einen Namen.

Profaner Geistesblitz: Dass wir Masken tragen, obwohl wir doch schon vorher welche getragen haben, die man uns weniger leicht ansah. Vielleicht herrscht jetzt die neue Ehrlichkeit.

Ich dachte, ich werde verrückt. Und als ich es zu denken aufgehört habe, dann vielleicht deshalb, weil ich es geworden bin.

Eilig hingedöster Nachmittagsschlaf. Kaum erholt, bloß notdürftig entmüdet.

Jetzt war also jeder – jeder! – Österreicher mindestens einmal im Fernsehen: Beim Singen vom Balkon, beim Klatschen für die Helden des Alltags, beim Brotbacken, beim Chatten mit Freunden, beim Gassigehen mit dem Hund, beim Joggen, beim Diskutieren mit der Polizei, beim Musizieren in der Küche mit Töpfen und Pfannen, beim Hausaufgabenmachen, beim Tanzkurs übern Bildschirm – Bauchtanz, Walzer, alles –, beim Yoga auf der schweißgebeizten Matte, beim Äußern einer Meinung auf der Straße, als Interviewpartner zu wichtigen Themen, beim pathetischen Aufblättern seines Notizbuchs, beim Herstellen von irgendeinem Produkt, das gerade viel gekauft wird oder nicht verkauft werden darf, als jemand, für den sich gar nichts, ein bisschen, wenig, einiges, viel, sehr viel oder alles geändert hat, als Essensauslieferer oder Fahrradbote, als Regaleinschlichter, Kundenbetreuer oder Arbeitsloser, als Lebenskünstler, Durchschwindler, Krisengewinnler, Armutsgefährdeter oder Vorstandsvorsitzender.
*
Jeder hat erklärt, wie es ihm geht, wie er mit allem umgeht, was er sich wünscht und erhofft, was ihn besorgt und was ihn verstört und was ihn beglückt. Alle Journalisten haben alle Musiker interviewt, und alle Schriftsteller haben alle gescheiten Sachen gesagt, und alle Klein- und Mittelbetriebe haben jeden Mitarbeiter vor die Kamera geschleift, und alle Politiker haben in allen Shows von ihren Haustieren und grünen Daumen erzählt, und alle Selbständigen haben ihre Meditationstechniken erklärt, und alle Kinder haben gesagt, dass sie die Oma vermissen, und alle coolen Jugendlichen mit Schirmkappe und teurem Leiberl haben vor sich und der Weltöffentlichkeit bekannt, dass sie sich eigentlich schon wieder voll auf die Schule freuen, weil immer nur von der Couch aus zocken über Voicechat halt irgendwann auch fad wird. Und alle Mütter sind danebengestanden und haben mit nachsichtigem Lächeln den Kopf geschüttelt. Und alle Väter haben im Hintergrund den Geschirrspüler ausgeräumt oder selbst ein Hemd gebügelt und zugegeben, dass es Arbeit ist.
*
Und alle Bäckereibesitzer haben geklagt, wie schlecht es läuft, und alle Buchhändler haben gesagt, dass sie jetzt auch liefern, und alle Filialleiter aller Supermärkte haben versichert, dass es genug von allem gibt, haben eine Klopapier-Garantie abgegeben, eine Wein-, Speck- und Obstgarantie. Alle haben zu allen gesagt, dass die Lager mit allem voll sind. Und zwar immer mit den Worten: Unsere Lager sind voll. Und alle Theatermacher haben gesagt, dass sie alle Stücke und gestrichenen Premieren ungekürzt streamen, und alle Museumsdirektoren haben gesagt, dass sie alle Führungen jetzt virtuell geben und online zugänglich machen. Und überhaupt haben alle mehrmals gesagt, dass sich jetzt alles ins Netz verlagert, die Schule und die Freizeit und die Liebe und der Stress. Und alle Blumenhändler haben gesagt, dass sie ihre Schnittblumen entsorgen müssen. Und alle Hundebesitzer haben gesagt, dass sie das alles eher entspannt sehen und dass man ihn eh streicheln darf, weil er eh nix tut. Und alle Zweitwohnbesitzer haben gesagt, dass man ihnen in den Bundesländern bitte nicht das Wasser abdrehen soll. Und alle Bürgermeister haben gesagt, dass sie alles unter Kontrolle haben. (Und Sepp haT gesagT, wir müssen alles anzünden.)
*
Und alle niedergelassenen Ärzte haben gesagt, dass es in ihrer Praxis von allem zu wenig gibt und dass sie sich im Stich gelassen fühlen von der Ärztekammer oder irgendeiner Behörde. Und alle Zuständigen haben gesagt, dass Nachschub kommen wird. Und alle geheimen Quellen haben als Silhouette und mit verstellter – oder nachgesprochener – Stimme gesagt, dass die Lieferung aus China mangelhaft ist und dass die Chinesen uns als gespendete Schutzkleidung eher billige Schrottware liefern. Und alle Spitalsärzte haben gesagt, dass sie für uns da sind, solange wir nur schön brav zu Hause bleiben. Und das machen wir auch, weil es gescheit ist. Und alle haben gesagt, dass man die Bundesgärten öffnen soll, was auch geschieht. Und alle haben eine lustige Anekdote erzählt, die sie selbst erlebt oder auch nur erzählt bekommen haben.
*
Und alle Virologen haben skizziert, wie es weitergehen könnte. Und alle Ökonomen haben gesagt, dass es die schwerste Wirtschaftskrise seit irgendwann wird. Und so ziemlich alle Lehrer haben gesagt, dass es über Computer nicht so leicht geht und man immer erreichbar sein muss. Und alle haben sich gefragt, ob das Internet eingeht, aber noch passt es eh. Und alle sind froh. Und alle Chefs haben gesagt, dass sie ihre Angestellten in Kurzarbeit schicken. Und alle Psychologen haben gesagt, dass es den Leuten auf Dauer nicht so gut tut, allein in den eigenen vier Wänden zu hocken. Und schon ganz am Anfang der seltsamen Zeiten – als noch gar nicht abzusehen war, wie lange sie dauern werden –, da hat unser lieber Herr Bundespräsident mit seiner asiatisch-höflich-freundlichen Verbeugung gesagt, dass es zwischendurch ja ein bisschen Spaß machen darf. Und das tut es auch.
*
Und alle Fußballspieler haben allen Halbstarken und Käfigkicker gesagt, dass Quarantäne nicht so schlimm ist und man derweil nicht im Park gaberln soll, sondern zu Hause bei der Mama vor der Kredenz. Und alle freischaffenden Dichter und alle Alleinerziehenden und alle Gelegenheitsjobber haben gesagt, dass es sich hinten und vorne nicht ausgeht. Und es stimmt. Und alle Minister haben gesagt, dass es vorbeigehen wird. Und alle Journalisten haben alle Leute und einander interviewt. Und alle haben alles gesagt, und alle haben alles von allen gehört, und haben sich darin wiedergefunden. Wir haben uns in uns selbst wiedergefunden. Wir sind ein fertiges Kreis, ein geschlossenes, in sich überlebensfähiges System.
*
Wir sind ein so kleines, ein winziges Land. Wir sind vollkommen durchbefragt und durchinterviewt – durchgedreht. Wir sind auserzählt. Und wie klein das Land ist, merkt man daran, dass wir beim Ende angelangt sind und es jetzt wieder beim Anfang beginnt. Wir alle haben unseren Ruhm gekostet, und er war schön. Und jetzt stellen wir uns alle wieder hinten an für eine zweite Runde. Und all das löst eine stille Freude aus. Es stimmt heiter. Wir sind so wenige. Wir sind so ein artiges und eigenwilliges und musisches Volk. Unerheblich bis zum Größenwahn. Wir sind ein bedrohlich putziges, bedenklich gelassenes, schwindelerregend geduldiges und herrlich unterschätztes Volk. Wir sind aufgeweckt, fleißig, ideenreich und nachsichtig. Wir sind anders, als man denkt – in beide Richtungen, auf allen Ebenen. Wir sind das giftige Lob und die heimliche Hilfe, der letzte Schmäh im freien Fall. Wir sind die Welt in einer trockenen Erbse. Wir sind ruppig, ernst und scheu, unerträglich liebenswert, bequem und gescheit und verloren. Wir sind etwas Eigenes, und manchmal habe ich uns ganz gern.

Die glatten Erfolgsmenschen haben nur eine Geschichte zu erzählen: Wie ich eines Tages alles richtig gemacht habe. Immer kratzt ihr Leben genau dort, wo es juckt. Früher habe ich sie beneidet, heute bemitleide ich sie. Eine solche Leere kann ich mir nicht leisten. Sie wäre die Erzählunmöglichkeit. Eine Stille, die nichts will.

Ich stelle mir die Kanzlerin vor, wie sie nach der großen Ansprache nervös ins Hinterzimmer tritt, sich an den Besprechungstisch setzt, das Wasserglas an die Lippen hebt und einen großen Schluck nimmt. Wie sie kurz durchatmet und sich die eben live übertragenen Sätze noch einmal durch den Kopf gehen lässt. Wie sie still mit sich verweilt. Dann betritt jemand den Raum, setzt sich zu ihr. Ich stelle mir die Kanzlerin vor, wie sie bescheiden lächelt, sich zurechtrückt und sagt: So, Herr Virologe – wie ist es denn jetzt wirklich?
(Den Wählern wird sie die Tatsachen wie bittere Medizin tröpfchenweise zuführen, in grauer, gemäßigter, nüchterner Sprache; ostdeutsch verhalten. Sie folgt dem Prinzip: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar – in homöopathischer Dosis. Die Zeit ist eine Fläche, auf der man die Dinge geruhsam und nachdrücklich ausbreiten kann.)
Ich stelle mir vor, wie finster und spannend es wäre, würde man die Menschen im großen Stil hinters Licht führen. Und gleichzeitig weiß ich, dass es nicht so ist. Die Welt ist nur dann ein Film, wenn man ihr Zuschauer bleibt.

Hustet einer falsch – nämlich offen oder in die flache Hand –, dann bin ich der Mensch mit dem bösesten Blick. Pass auf, sage ich mir, so möchtest du nicht sein. Kehr erst einmal vor der eigenen Tür. Du wärst ja tatsächlich der allergründlichste Denunziant, wenn es sie braucht. Gefall dir nicht im Niederschauen der Huster. Sei gnädiger mit anderen und fang – wenn es sein muss – an bei dir selbst.

Wie beruhigend ist der Hinweis eines zugeschalteten Korrespondenten, in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents sei die Bevölkerung sehr jung, was bei einer solchen Pandemie zum großen Vorteil wird. Besänftigung durch Zahlen – schwelgen in Demographie.

Sich den Dingen stellen, indem man an einem Nebenschauplatz in die Tätigkeit geht.

Ein alleinstehender Freund erzählt kleinlaut, er habe einen Bekannten getroffen, sei zu ihm ins Auto gestiegen und an den Stadtrand gefahren. Sie hätten gemeinsam einen Ausflug gemacht. Der Freund gesteht es wie eine Schuld, die ihn belastet. Er habe nicht gewusst, wohin, sagt er, und sein Bekannter auch nicht. Ihnen sei die Decke auf den Kopf gefallen. Obwohl es nicht an uns ist, ihm zu verzeihen, tun wir es. Man darf sich nicht verrückt machen, sagen wir. Irgendwo hört es auf. Man will nicht an die Luft und zu den Menschen – man muss.

Ich habe beschlossen, die Krankheit durch Sprache auszurotten. Ganz ruhig und entspannt, eher nebenbei, zwischen Kaffeekochen und Händewaschen und Zettelsortieren. So beschwingt von einem Kampf ist man nur dann, wenn man ihn schon vor Beginn gewonnen hat. Ruhig ist, wer die Richtung kennt. Der Frühabend ist langsam und warm. Ein unerklärlicher Frieden legt sich über den Tag. Wort für Wort, Satz um Satz wird die Krankheit geschwächt und zurückgedrängt. Sie fragt, wohin soll ich mich wenden. Ich schreibe ihr eine Antwort in die flüssige Haut. Sie hat sich an uns verrechnet, sich in uns getäuscht. Sie hat sich mit uns die Falschen ausgesucht. Wir haben, was erst anfängt, längst besiegt.

Wie schön ist ein sonniger Tag
Die klare Luft nach einem Sturm
Die frische Luft wirkt wie ein Fest
Wie schön ist ein sonniger Tag