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21 Montag, 06.04.2020

In der U-Bahn herrscht das neue Misstrauen.

Hinter mir ertönen zwei rasch aufeinander folgende Schreie. Es klingt wie menschliches Bellen. Sie müssen aus der Trafik gekommen sein, deren Tür offensteht, um Frühling zu atmen. Ich bleibe stehen und stutze. Wahrscheinlich beginnt so ein Raubüberfall. Wie es sich für einen aufdringlichen Hilfssheriff gehört, trete ich ein paar Meter zurück, um nach dem Rechten zu sehen. Im Inneren der Trafik erblicke ich einen Mann mit zerfurchtem Gesicht. (Er muss viel erlebt haben – und viel zu erzählen.) Er hält sich einen Lottoschein ganz nah vor die Augen, schüttelt ungläubig den Kopf.
Der erste Schrei muss gesagt haben: Gewonnen!
Der zweite Schrei: Doch nicht!
Ich kann den Mann verstehen. So eng liegen Glück und Unglück selten beieinander. Und interessant, dass die gebellten Schreie exakt gleich geklungen haben.

Als ich meine Arbeitsstelle erreiche und den Haustorschlüssel aus dem Rucksack nehmen will, bemerke ich, dass der Reißverschluss des kleinen Außenfachs offen ist – und während des gesamten Hinwegs offen gewesen sein muss. Niemand hat mich darauf hingewiesen, weder auf der Straße noch in der U-Bahn. Seufzend lehne ich mich gegen die Tür. Nicht einmal auf Fremde ist noch Verlass.

Der Bürohund weiß von nichts.

Die Menschen sind Verbrecher. Es gibt konspirative Treffen zur Planung eines späten Osterfrühstücks im familiären Rahmen. Ganz traditionell versteckt man gekochte und handbemalte Ostereier in Nestern aus essbarem Gras; man kredenzt ofenwarme Osterpinze, saftigen Osterschinken garniert mit Sahnekren und Erdäpfelsalat. Die appetitliche Reihe täuscht. Es handelt sich um die Auflistung von Delikten. Mundwinkel Lügen nicht; Schokolade als Tathergang.

Die täglichen Zahlen stimmen zuversichtlich; jene der Neuinfektionen ebenso wie jene der Todesopfer. Was den gesundheitlichen Aspekt angeht – und nur ihn! – wird es in unseren Breiten recht glimpflich enden. Und gleich die Sorge, dass wir nicht genug daraus lernen.

Polizisten halten schlendernde Paare auf und kontrollieren, ob beide den identischen Wohnungsschlüssel eingesteckt haben. Aus Bitte wird Befehl. Sie legen Schlüsselbart an Schlüsselbart, um existierende oder fehlende Kongruenz festzustellen. Vor lauter Eifer kauen sie ihre Zunge, deren Spitze aus feuchten Lippenhälften hervorblitzt. Wenn alles seine Ordnung hat, dürfen die zwei unbehelligt weiterträumen in den Sonntag, gibt es jedoch eine Abweichung, haben sie ein Problem. So geht sie vonstatten, die Polizeiarbeit in der Hauptstadt. Beamte lassen sich dabei bereitwillig filmen.
Bald geht es zum nächsten dringenden Einsatz. Womöglich meldet ein Nachbar störende Beischlafgeräusche; hier bedarf es einer eingehenden Untersuchung, ob denn auch alle involvierten Einzelpersonen über eine aufrechte Meldung an der betreffenden Adresse verfügen. (Erbitten direkten Zugriff aufs aktuelle Register.) Unbürokratisches Betreten von Privateigentum sollte angedacht und durch einen entsprechenden Generalerlass autorisiert werden. Ist der rechtliche Rahmen einmal abgesteckt, können die Beamten nach eigenem Ermessen ganz erstaunliche Bilder malen. Sie werden Augen machen.

Sich beim Mitansehen der Maßregelung und Vertreibung des Stadtpark-Saxophonisten für ein paar Sekunden dem gewaltbereiten Linksextremismus anschließen und das Anarchist Cookbook auswendig lernen.

Gelassen ins Böse hinein fantasieren.

Was plötzlich alles unverzichtbar ist.

Traumbild: Der Boden ist voller Wespen. Ich steige barfuß hinein, doch kein Stich ist zu spüren. Die Wespen umschwirren mich und befallen meinen Körper. Ich trete und trample, spüre aber immer noch nichts. Der Boden ist ganz Wespe. Es ist schön.

Manchmal gehe ich mit einem Lehrer-Freund ein Bier lang spazieren. Gemma Baustelle, sagen wir dann grinsend, und begutachten einen Baustellenfortschritt. Früher oft, und heute seltener. Wohntürme in Zeitlupe gen Himmel wachsen sehen, ist seltsam beglückend.

Laut Sendungsverfolgung hätten heute meine zwei handgenähten Stoffmasken im Postkasten sein sollen. (Zeichen sehen, wo keine sind.)

Warten gibt es nicht. Es gibt nur lesen, bis es weitergeht.

Was uns schlussendlich retten wird, ist nicht die Medizin, sondern Technologie – die intelligent gestaltete App mit stufenlos justierbarem Algorithmus. (Konkrete Beispiele in Asien zeigen Möglichkeiten auf, diese wurden oft genug skizziert.)
Ein hoher Anteil der Bevölkerung lädt besagte App herunter, mindestens sechzig, besser achtzig Prozent. Da die sinnvolle Verwendung der Software ohnehin auf freiwilliger Basis beruht, muss auch die Installation rein freiwillig geschehen. Stellen sich virustypische Symptome ein, werden diese per Knopfdruck gemeldet; der Nutzer ist damit automatisch als Verdachtsfall registriert und für eine zeitnahe Testung gereiht. Telefonschleife und Anmeldung fallen weg. (Testkapazitäten müssen ausgebaut werden.) Hausbesuch eines Arztes, der einen Abstrich macht; bis Erhalt des Ergebnisses (idealerweise zwei bis drei Tage) strenge Heimquarantäne. Bei positivem Ergebnis Verlängerung der Quarantäne um mindestens vierzehn Tage. Konsequentes Mitvollziehen der Symptomentwicklung, regelmäßiges Messen der Körpertemperatur, Dokumentation in elektronischer Form. Die Arbeitgeber der Nutzer sind gesetzlich verpflichtet, eine Freistellung zu gewährleisten, was schon bei der Verdachtsquarantäne gilt – hier stichprobenartige Überprüfung, um ein Ausnutzen der Regelung zu verhindern. (Verzichtbare Größe, da gewisse Dunkelziffer erschlichener Krankenstände ohnehin gegeben.) Abklingen der Symptome und doppelte Negativtestung als Grundvoraussetzung für den Wiedereintritt in gesellschaftliches Leben und Arbeitswelt.
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Der Nutzer erlaubt das Erstellen seines aussagekräftigen Bewegungsprofils, dieses wird in anonymisierter Form gespeichert. Fällt sein Test positiv aus, ermittelt der Algorithmus jene Personen, die sich über einen festgelegten Zeitraum in unmittelbarer Nähe aufhielten, verständigt diese und rät zu oben genannter Prozedur bestehend aus Heimquarantäne auf Verdacht samt Haustestung und Abwarten des Ergebnisses. Das Abgleichen der Standortdaten kann automatisch geschehen – ein Erfassen der Nutzerbegegnungen in Selbstverantwortung ist als das Projekt torpedierende Fehlerquelle zu verwerfen. Erkennt der Algorithmus Infektionscluster, so kann er automatisch oder kuratiert von menschlichen Experten unmittelbar Gruppen- oder Gebietswarnungen aussprechen, kann dem Nutzer also mitteilen: Innerhalb deiner Begegnungsgemeinschaft gibt es einen statistisch signifikanten Anstieg von Infektionen – bleib zu Hause, lass dich testen. Oder kann dem Nutzer mitteilen: Innerhalb deines Wohn- und Einkaufsgebiets gab es einen solchen Anstieg, bleib zu Hause, lass dich testen. Kommt es zu einem Infektionsausschlag in Bezirk, Gemeinde oder Region, so kann durch zuständige Behörde oder entsprechende Entscheidungsträger die massenhafte und flächendeckende Quarantäne empfohlen oder gar verordnet werden.
(Halbseidene Wiedergabe eingedampfter Konzepte. Zweifel am Rande: Du siehst die Leute husten und traust ihnen Technik zu? Du siehst Menschen, die zu blöd sind, richtig zu husten, und erwartest von ihnen, klug genug zu sein für eine App? Du tappst in die Falle sinnentstellender Verkürzung. Die Selbstgespräche mit dir werden immer besser. Erst warst du nur Hobby-Virologe, und jetzt bist du Informatiker auch noch.)
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Die vernünftige und gewissenhafte Verwendung einer solchen App würde den permanenten Shutdown für alle und alles mit einem Mal obsolet machen, die autokratischen Maßnahmen auf einen Schlag beenden. Zwar würden wir weiterhin jeweils die Nadel im Heuhaufen suchen, doch wir hockten mit Nachtsichtgerät im abgedunkelten Schuppen, und die Nadel wäre in phosphoreszierende Farbe getaucht.
Das Entwickeln und Implementieren einer solchen App hätte gestern passieren sollen. Es ist nicht passiert. Also muss es heute passieren. Die Instrumente sind vorhanden (Open Source sei Dank.) Die App ist wichtig – und sie ist gefährlich.
Bedenken von Datenschützern sind da erst der Anfang. Wir betreten einen rechtlichen Graubereich, bei dem kaum abzuschätzen sein wird, wo er beginnt und wo er endet. (Dichter Nebel, den wir blind durchstolpern.) Es stellen sich mehr Fragen, als sich beantworten lassen: Wer ist Entwickler und Betreiber und Bereitsteller der App? – private Firma, Staat, Verein oder illustrer Zusammenschluss? Wer trifft Entscheidungen, speist Daten in den Algorithmus ein? Überlassen wir der magischen Maschine gleich selbst das Ruder? Wer weiß wann wo warum wie viel? Wo lagern unsere Daten, wie sind sie geschützt und wer greift aus welchen Gründen darauf zu? Erst tun und danach fragen; oder warten und ohne Antwort bleiben? Welcher Zwang schafft Freiheit? Wohin strebt das Recht? (Das Einfallstor wird geöffnet, ein Grenzstein ohne zurückbleibende Markierung verschoben worden sein.)
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Bald können wir nicht mehr; und früher noch werden wir nicht mehr wollen. Nach heutiger Verlautbarung darf es bis Ende Juni keine Veranstaltungen geben. Damit ist vielen Kunstorten mit flottem Spruch ein Todesurteil gesprochen. Ende Juni wird noch nicht das Ende sein. Wir tragen Masken in Supermärkten, bald auch in öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Feind lacht uns aus. Wir könnten Schlange sein, und schnappen nicht zu. Die App ist nicht weniger als codegewordener Erfindergeist, in Binärsprache übersetzte menschliche Intelligenz; sie ist, was wir dem Virus voraushaben. Sie als Waffe einzusetzen, wäre Pflicht. (Poetik der Technik; Daten als flüssiges Licht.)
Wir möchten hinaus, unsere Eltern und Freunde und Geschwister besuchen. Wir möchten, dass man uns mit Ernst umarmt. Wir möchten uns im freien Gang verlieren. Alles dürfte weitergehen, alles könnte sein. Wie weh kann Hilfe tun.
Was mir an der technologischen Rettung am meisten Angst macht – ist ihre Sinnhaftigkeit. Ich wünsche mir die App. Und bete, dass sich mein Wunsch nie erfüllt.