Vor Wochen habe ich mich für eine Reihe von hochkarätig besetzten Theaterworkshops beworben. Diese würden verteilt über zwei Jahre in zehn Einheiten stattfinden, bei denen man seine entstehenden Stücktexte mit Theaterarbeitern aus verschiedenen Sparten bespricht. Auch Austausch mit Kollegen wäre vorgesehen. Hätten stattfinden sollen, denke ich, wäre vorgesehen gewesen.
Jetzt frage ich mich, was mir lieber ist: Nicht angenommen werden und wissen, dass es ohnehin egal ist – egal gewesen wäre. Oder angenommen werden und wissen, dass es nicht – jedenfalls nicht in dieser Form – stattfinden wird. Wie interessant und lehrreich hätte es sein können, da teilnehmen zu dürfen: Einzelmonitoring, Stückentwicklungswochen mit Schauspielern und Regisseuren sowie Workshops in und um das szenische Schreiben sind Inhalte der angebotenen vier Semester.
Ich denke allzu negativ. Zwei Jahre – vier Semester –, natürlich wird es in abgewandelter Form stattfinden können. Lass dich nicht verrückt machen, sage ich mir. Und gleich nagt der Zweifel: Staaten, Grenzen, Reisefreiheit; New York, Neu Delhi, Abuja. Wie viel Welt bleibt?
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Die Einreichung war sehr aufwendig und umfangreich, in meinem Fall über zwanzig Seiten. Eine besondere Schwierigkeit lag darin, eine sehr grundsätzliche Bestandsaufnahme der bisherigen sowie eine Positionsbestimmung der kommenden Arbeit vorzunehmen, was noch dazu in höchst komprimierter Weise zu geschehen hatte.
Die zweite Aufgabenstellung lautete: Stellen Sie in einem kurzen Text Ihren Weg zum Autor dar. Beschreiben Sie auch, was Ihr Schreiben bislang beeinflusst hat, auf welche Vorbilder Sie sich beziehen, was Sie an diesen beeindruckt.
Mein Versuch, diesen Weg als Werdegang mitsamt wichtiger Bezüge auf den vorgegebenen zwei Seiten abzubilden, dabei gleichermaßen persönlich wie literarisch zu bleiben, verlangte mir einiges ab. Sich selbst zusammenfassen auf zwei Seiten, dachte ich. Unmöglich, dachte ich, und legte los:
Die elterliche Bücherwand mit starkem Österreich-Bezug, als jugendlicher Computerspiel-Nerd zunächst eher zaghaftes, dann immer gewagteres Herauspicken erster prägender Autoren: Bernhard, Bachmann, Jelinek (der man nur in pubertärem Überschwang etwas abgewinnen kann), Handke, Rilke, Schnitzler, Zweig. Bald das Ausformen eines eigenen Lektüre-Sensoriums, Camus, Auster, Hesse (natürlich), Houellebecq mit seinem weltschmerzenden Männlichkeitspathos. Ein Lesehunger, eine Buchbesessenheit, die seitdem niemals länger als für ein paar erschöpfte Wochen abgeklungen ist.
Der Impuls – woher? – dem Gelesenen auf eine Weise zu antworten, mit den eigenen bescheidenen sprachlichen Mitteln. Das Bemerken eines Sinns, der darin liegt. Noch keine Vorstellung davon, ob es sich bei diesem gedankenverlorenen Tun denn um eine Tätigkeit handelt, geschweige denn um ein zulässiges Lebensmodell. Keine Künstler in der Familie, auch nicht in der erweiterten, kein Vorbild für ein anderes Leben, das auch möglich ist. (Bernhard sagt: Ich gehe den Alleingang. Von ihm die Konsequenz der Künstlerexistenz und die musikalische Sprache, den schwingenden Rhythmus, den augenzwinkernden Eigensinn.) Schulabbruch des einstigen Musterschülers – nicht als mutiger Akt der Rebellion, keine Entscheidung gegen etwas, sondern die bewusste und wohlüberlegte Entscheidung für etwas, in eine zielführende Richtung, ganz nüchtern und gemäßigt.
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Intensivierung der Schreibtätigkeit (jetzt ist es das, wenn auch für Jahre nach außen hin schwer zu vermitteln). Erste Veröffentlichungen, ein kleiner Wettbewerb, Verlagskontakt. Heilsames Stürmen gegen Wände. Die Literatur als hermetische Welt, in die man als Außenstehender anmaßend Eintritt verlangt – man steht da wie der Ochs vorm Tor, wie ein kleiner Möchtegern-Franz vor dem Gesetz (Kafka hat mit seiner Türhüterparabel alles über das Leben gesagt – wie so oft.) Jeder Satz und jedes Wort ist Anmaßung: Etwas sagen ist die Behauptung, etwas zu sagen zu haben; etwas schreiben ist die Behauptung, etwas zu schreiben zu haben. Schließlich richtet es sich an andere Menschen, zielt auf ein Publikum ab. Das Teilen einer Selbstbefragung – als Selbstvergewisserung, Selbstvergegenwärtigung; wo es sein soll, auch als Selbstvergessenheit.
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Ein erster Roman, eine selbstverliebt sprachverspielte Dystopie. Ein Erzählband im fahlen Nachtblau der Stadt. Ein umfangreicher Roman, postmodern und in Teilen geglückt (Orte als Figuren, Berlin bei einem Boxkampf gegen Wien), ein verwirrtes und verworrenes Ebenen- und Zeitenspiel, ein großer Versuch. Daneben über die Jahre verschiedene Nebenjobs – Kinderbetreuung, Crowd Management, Startnummern-Herstellung: schiere Notwendigkeit, liebgewonnen als heilsames Am-Boden-Bleiben, als erstrebenswerte Horizonterweiterung, als gesundes Kontakthalten mit dem vielzitierten echten Leben, um sich nicht zu verbunkern im Elfenbeinturm. (Handke, selbsternannter Bewohner desselben: Von ihm jene Beschreibungspotenz, die er seinen Geistern in Princeton voraus hat.) Dann doch lieber der Umweg übern Sisyphos-Hügel, mit selbstbewusstem Zweifel als solidem Fundament. Das andere Leben ist nicht nur möglich, sondern genauso gut oder schlecht, leicht oder schwierig wie bei allen. Diskrete Stetigkeit – so heißt Oswald Eggers Buch über Poesie und Mathematik (Von ihm bloß diesen Titel, denn das Buch selbst ist leider bis zur Unlesbarkeit verkopft). Beim künstlerischen Werdegang sich einer solchen diskreten Stetigkeit verschreiben: Lieber wachsen wie ein Mammutbaum, gemächlich und beharrlich, als verglühen wie ein Komet mit heißem Schweif. Welch halsbrecherische Zuversicht einen manchmal voranpeitscht.
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Nach einer unfreiwilligen Veröffentlichungspause der nächste Roman, eine Beschreibungsgeschichte zwischen Wien und Tokyo. Und noch ein Roman, über Zeitreise und die Begegnung mit sich selbst, eine abstrakte Raum-in-Raum-Konstruktion. Dann das autobiographische Vaterbuch, bei dem der Ballast der Fiktion und des Verklausulierens abgeworfen wird. Man muss schon auch präzise fühlen, wenn man sich einbildet, seinen Weg zum Autor gehen zu müssen. (Vielleicht kann man Autor gar nicht sein, sondern nur gewesen sein – im Rückblick erhält alles seine Folgerichtigkeit.) Das Künstlerische als gelassen geschulterte Pflicht. Wie der Baron Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat, so kann man sich auch am eigenen Erzählen aus der Misere schreiben.
Stetes Erobern zusätzlicher literarischer Kontinente: Franzen, Knausgård, Joyce, Pessoa, Proust (Von ihm alles, vor allem die mäandernden Sätze, die schmerzhaft wahren Schilderungen unseres Innenlebens, der Verletzungen und Verwerfungen, die wir sammeln. Wie er jahrelang ein kränkelndes Bettleben führt, sich als Person ganz dem Entstehen seines Werks schenkt). Sich voranbuchstabieren im Alphabet der Ratlosigkeit – was bleibt einem denn auch anderes übrig, als heiter seine Niederlagen zu verwalten. (Anmerkung des Coronatikers der Jetzt-Zeit: Diese Phrase habe ich sehr egozentrisch in der dritten Notiz – Donnerstag, 19.03.2020 – zitiert; zwar kursiv gesetzt, jedoch ohne Quellenangabe. Die Wendung gefällt mir, ich bin stolz darauf. Postmoderne Selbstkommentierung: Der von Ihnen gelesene Satz hat sich selbst und das Lesen des Satzes zum Thema.)
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Vorsichtiges Hineinspüren in die Theaterarbeit. Plötzlich selbst mitzumachen bei Projekten, versöhnt mich mit dem Theater, mit dem ich jahrelang nur als Leser (Beckett, Pinter, Kane), nicht aber als Zuschauer gute Erfahrungen gemacht habe. Die flüchtige Momentkunst Theater ist mir schleierhaft, ich verstehe sie nicht – sie bleibt mir magisch und nimmt mich doppelt ein. Sie zieht mich an, ich habe ihr etwas zu sagen. Schreiben heißt, etwas gern nicht verstehen. (Paul Nizon sagt: Am Schreiben gehen. Ich bin ein vehementer Bewohner der Republik Nizon. Von ihm die Unbedingtheit der Sprache und die Radikalität der Lebensführung; dass er sein Zürcher Redakteursleben aufgegeben hat, um in Paris Flaneur zu sein – wohlgemerkt auf Kosten der Familie).
Theater als Symbiose zwischen Verstand und Affekt, es entstehen Momente vorübergehender Ewigkeit. Es öffnet mir Räume, wirft neue Fragen auf. Es gilt, auch hier den eigenen Ton zu finden. Die Welt in sich hineinschaufeln, und so etwas aus sich selbst schöpfen, und das Entstandene auf den Weg schicken – zurück in die Welt, aus der es kommt. Gehe ich heute ins Theater, dann bemühe ich mich um einen Randplatz abseits, denn oft möchte ich währenddessen ins Notizbuch mitdichten an den Lippen der Schauspieler. Es ist schon auch die Arbeit des Detektivs, der mit offenen Augen durch die Gegend streunt und gegen Unbekannt ermittelt – aus vollen Zügen produktiv sich wundern.
Es gibt eine lebensbejahende Ratlosigkeit. Der Welt begegnen mit grenzenloser Zuversicht – womit denn sonst? Manchmal, im Lesen eines großen Buches oder im Schreiben eines kleinen Satzes der innere Ausruf: Das ist Literatur!
Vielleicht der Gedanke, dass jeder Moment – jetzt, jetzt und jetzt – der Moment sein könnte, dem man vertraut und an dem man etwas wagt. Ich bin und bleibe ratlos – und koste es mit wachen Sinnen aus.
Die fünfte Aufgabenstellung lautete: Beschreiben Sie kurz drei Impulse, die für Sie zum Ausgangspunkt einer literarischen Arbeit werden könnten. Dafür war lediglich eine Seite veranschlagt. Ich zählte auf:
Begebenheit
Der Vatertod, das Auffinden der Leiche. Anblick und Geruch. Das Fensteröffnen, die Kälte. Die unwillkürliche Versprachlichung der Eindrücke. Die tausend inneren Stimmen, die auf einen einsprechen, die tausend aufblitzenden Bilder. Die Erinnerungen an vor zwanzig Jahren, an vor zehn Jahren, an vor einer Woche. Wann zum letzten Mal miteinander gesprochen? Was bei diesem letzten Mal zu einander gesagt? Die Erschütterung als Ruck, der etwas freisetzt und entfesselt.
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Begegnung
Tatsachen des Herzens, harte Fakten des Gefühls. Die Zeit – die wenige Zeit – verbringen mit Menschen, bei denen man über sich selbst lachen kann. Das Sprechen über Bücher und Kopfgeburten genauso wie die ausgelassene Blödelei. Gemeinsam kochen, essen, trinken. Ein Spazierengehen, das jeder Jahreszeit etwas abgewinnen kann, der gute Schlaf im Beisein. Der Frieden, den gebrauchten Menschen in Sicherheit zu wissen. Vermissen, verwünschen, das auch. Die schlaflose Sehnsucht nach dem anderen, in dem wir uns erkennen. Geschichten, die vorbeigehen, ohne auserzählt zu sein. Die Nähe zu jemandem, der einen über sich selbst hinauswachsen lässt, bei dem man sich nicht verstellen muss. Jemandem Zuspruch und Halt geben dürfen. Die geteilte Euphorie.
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Alles
Das Intellektuelle ebenso wie das Emotionale, pendeln zwischen den Polen, alles, eine nachhallende Lektüre-Erfahrung, das besorgte Lesen von Lolita, bei dem das gedankliche Umdichten des Stoffes zu einem Stück geschieht, aus Sicht der titelgebenden Kindfrau, als banales Missbrauchsopfer in einer Männerwelt, auch in literarischer Hinsicht, alles, ein amerikanischer Podcast über nach Afghanistan verschiffte Milizsoldaten, großteils mittelständische Familienväter, die überfordert sind und ins Gras beißen, aus dem ein Drehbuch-Entwurf wird, alles, die Folge einer Reality-Show mit einem britischen Fernsehkoch, die Reality TV als Genre auf den Punkt bringt, aus der die Idee einer akribischen, buchlangen Nacherzählung keimt, alles, das schlaflose Bezirkdurchstreunen in der Nacht, aus der man sich Gedichte pflückt, alles, das jahrelange Plasmaspenden gegen Geld, aus dem der Roman Plasma wird über die Studentin Kim, der nie das Licht der Welt erblickt, alles, wissen, wohin man gehört, und wenn man es nicht weiß, es tragen, alles, die Ereignisse und Aussagen in der Stadt-, Innen- und Weltpolitik, das unbedingte Festhalten an einer Integrität, die vehement eingefordert werden muss, alles, wie schade, dass wir nicht viele Leben führen können, eines für jeden Menschen, der wir sind, aber wie schön, dass wir immerhin dieses eine führen dürfen, aus dem man nie schlau werden soll – alles.
Hier endet der Einblick in meine Bewerbung. Viele unserer Hoffnungen und Ziele sind eine Reise in die Zukunft der Vergangenheit. Denn jene Zukunft, die sich von unserer Gegenwart ableitet, wird eine andere sein.