Kafkas Fragment Der große Schwimmer handelt von einem Mann, der mit dem Auto in seine vermeintliche Heimatstadt zurückgebracht wird. Er landet an einem fremden Ort, wo er von ihm unbekannten Leuten für einen Weltrekord geehrt werden soll. Er lauscht einer Rede in einer ihm kaum verständlichen Sprache – gehalten von einem dicken Mann mit auffallend weißem Gesicht. Der Schwimmer gibt von sich aus zu bedenken, dass womöglich eine Verwechslung vorliege, geht dann jedoch achtlos darüber hinweg. (Es ist eine altbekannte Lebenswahrheit, dass wir uns irgendwann selbst für denjenigen halten, für den man uns hält.) Er bekennt, nicht schwimmen zu können, reklamiert den Rekord allerdings einverstanden für sich. Der Schwimmer wirkt unbekümmert ratlos.
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Erinnert habe ich mich an die Geschichte anders, nämlich so: Ein Mann gewinnt landauf landab jedes Wettschwimmen. Er kam aus dem Nichts, und strampelt jedes Mal durchs Becken in einem wüsten, ungeschlachten Stil, wie man ihn noch nie gesehen hat. Es ist eine Sensation, die nach und nach stutzig macht. Eines Tages, bei der großen Siegerehrung, fragt ihn die aufgeregt versammelte Presse nach seinem Geheimnis. Der Mann sagt beschämt: Ich kann nicht schwimmen. Er strample einfach jedes Mal in Panik zur anderen Seite, um nicht zu ertrinken. Sein Trainer schmeiße ihn herzlos ins Wasser, als sei er ein Zirkustier, mit dem sich gut verdienen lasse. Vielleicht fleht er noch: Bitte helft mir. Rettet mich! Die Leute sind nur mäßig irritiert, ihrer Bewunderung tut dies keinen Abbruch.
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Meine Version gefällt mir in ihrer Unerbittlichkeit wesentlich besser. Vielleicht habe ich sie geträumt. Es ist die beste Kafka-Geschichte, die nie geschrieben wurde. Ich hoffe, er macht sich möglichst bald an die Arbeit.
(Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese eindringliche Analogie auf meinem Mist gewachsen sein soll; sie muss in einem Buch, einer Geschichte vorkommen und bei mir hängengeblieben sein. Sie bringt es einfach zu sehr auf den Punkt: Wir alle sind dieser große Schwimmer – im Arbeiten, im Lieben, in allem. Wir gewinnen um unser Leben.)
Wolfgang Herrndorfs Sterbensblog Arbeit und Struktur habe ich damals nur sporadisch gelesen.
Jemandem, mit dem man im sozialen Netzwerk nicht befreundet ist, für seinen Beitrag einen Fremdlike geben.
Überschrift eines dubiosen Online-Portals:
COVID-19-Patient: „Nicht atmen zu können, ist ein schreckliches Gefühl“
Man lernt nie aus.
Die vorvergilbten Plakate abgesagter Konzerte werben für eine ganz eigene Melancholie.
Selbst unter der Woche ist alles sonntagshaft entschleunigt.
Im Arenbergpark sind die Eingangstore zum Spielplatz mit rot-weiß-rotem Signalband verhängt. Es ist schleißig befestigt, was nicht sehr professionell wirkt und wenig vertrauenerweckend ist. (Wer war hier zuständig, frage ich mich, etwa das Stadtgartenamt? Wohl eilig rekrutierte Hilfsarbeiter.) Die Spielgeräte sind umschmachtet von Kindern, die mit sehnsuchtsvollen Blicken patroullieren. Letzten Monat ging es noch – oder war es letzte Woche? Ach, was ist schon Zeit.
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Ein Haubenbub läuft seinem Ball nach, den er erst beim Zaun einholen kann. Er stellt sich davor, umgreift die Gitterstäbe. Er ist noch ganz klein und kann seinen Frust kaum in Worte fassen. Ich weiß, sagt seine Mutter, das ist blöd. Hoffentlich macht der Spielplatz bald wieder auf.
Er hält die Stäbe fest in seiner Faust und quetscht sie ein bisschen vor Hass. Ein von seiner Freude ausgesperrtes Kind, denke ich. Beinah will ich sagen: Da ist etwas kaputt, das wird jetzt repariert. Vielleicht hilft das, zu verstehen. Doch ich lasse es sein.
Die Mutter schupft den Ball zurück ins Gras. Komm, sagt sie, spielen wir ein bisschen in die andere Richtung, da musst du dir nicht die ganze Zeit den traurigen Spielplatz anschauen. Der Haubenbub löst sich vom Zaun. Er ist fixiert auf den Ball und würde ihm überallhin blind folgen.
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Die Menschen sind müde und still. Dabei sind sie ernst. Gerade Ältere verharren auf ihrer Bank wie Statuen, und lächeln die Sonne an. Sie lassen sich von ihr ausbrüten zu neuen Menschen. Selten habe ich jemanden etwas so genießen sehen. Man ist müde und rastet sich aus. Zu Hause geht man sich selbst auf die Nerven.
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Wir gehen unsere Runden, setzen einen Schritt vor den nächsten und wählen jeden einzelnen mit großem Bedacht. Wir sind die Bewohner – Insassen? – eines Sanatoriums. Ja, denke ich, wir sind Patienten, erholen uns vom Ringen mit einer schleichenden Krankheit. Der langsame Verlauf sickert ein durch die Ritzen der Tage. Zwischen den Behandlungseinheiten und der Ruhezeit im Zimmer dürfen wir uns manchmal die Beine vertreten; unter gewissen Auflagen, versteht sich, und unter strenger Supervision des eigens hierfür speziell geschulten Personals. Frische Luft ist bekanntlich gesund; Geregeltes Beinevertreten kann den Heilungsprozess der Patientin um bis zu fünfundzwanzig Prozent beschleunigen.
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Einzelne Eltern sind mit Kleinkind unterwegs. Es ist schwierig zu verstehen. Im Gras und auf den Bänken sind Nester mit jeweils zwei Menschen, immer das eingespielte Duo aus Erwachsenem und Kind. Unter normalen Umständen würde man sich austauschen, den Nachwuchs zum gemeinsamen Spielen animieren. Man hat sich viel Mühe gegeben, ihn zur vorurteilsfreien Begegnung zu erziehen und wünscht sich nun die – sorgsam ausgetriebene – Kontaktscheu zurück. Wie soll man auch verstehen, den anderen zu meiden, wo er doch so einladend allein ist und schaut.
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Eine andere Mutter mit anderem Kind, einer Tochter. Sie kann gerade erst gehen, und dazu mit viel Spucke brabbeln. Sie ist ziemlich begeistert von diesem Gehen, das alle so stolz mit der Handykamera filmten; ihre neu erlangte Fertigkeit will nun gezielt und ausgiebig erprobt sein – zum Leidwesen der Mutter, die wirkt reichlich abgekämpft. Zu allem geht die Kleine hin, so wie sie vorher wohl alles in den Mund gesteckt hat. Ich studiere die Nuancen der Bewegung.
Sobald die Tochter eine Richtung einschlägt, stellt sich ihr die Mutter – frohlockend, denn es ist ein großes Spiel – unmerklich in den Weg. So lenkt sie die Pfade des Kindes. Ansatzweise ist es das Hampelmann-Wischen des gesamten Körper, wie bei Manndeckung – Fraudeckung – im Sport. Ihre moves kommen mir sehr vertraut vor. Vielleicht hat sie ja einmal Handball gespielt. Auch der Blick wird von der Mutter ebenso diskret wie akribisch gelenkt: die Kindesaugen sollen nicht zu lang auf Mitmenschen verweilen, vor allem nicht auf Gleichaltrigen. Irgendjemand könnte ja zu interessant sein. Die Tochter schafft am Baum eine Wurzel.
Es ist zur Mutterpflicht geworden, das eigene Kind vor der Welt zu schützen; und die Welt vor dem eigenen Kind.
Da liest wer einen Reiseführer – das ist die richtige Einstellung!
Ein Mann mit stattlichem Bauch sehr pointiert über die wirtschaftlich prekäre Lage von Blumengeschäften: Des könnens jetz alle wegschmeißen, den Schas.
Nachhilfe oder Klavierstunden geschehen über Videocall. Es funktioniert erstaunlich gut – bei entsprechender Verbindung, die nicht zwischendurch abreißt. Viele Schüler sind recht motiviert, denn all den Stubenhockern – vom Unterricht befreit und auf Echtfreundentzug –, ist zu Hause ja auch schon ur fad. Exzessives Videospielen trägt nur eine gewisse Zeit. So klimpern wir bemüht unseren Chopin, jonglieren mit echten oder unechten Brüchen und suchen einen gemeinsamen Nenner.
Unverändertes Originalzitat einer niederländischen Zypriotin:
Hast du dir eh schon eine Maske genäht? Ich hätte sonst eine ganz einfache Anleitung, basierend auf einer Unterhose. (Ein Satz, für den man noch vor wenigen Wochen ins Irrenhaus gekommen wäre.)
Erster Tag der nach und nach Einzug haltenden Maskenpflicht. Im Supermarkt ist weniger los als befürchtet. Beim Eingang stellt man sich für Masken an. Diese werden einem von einer Angestellten mit Zange aus einer offenen Schachtel gereicht. (Sterile Vorgehensweise?) Nun muss man die Einwegmaske – mit ungewaschenen Händen – anlegen, was ich ebenfalls für nicht ganz ausgereift halte. Die Austeilerin erinnert an eine Flugbegleiterin, die einem das heiße Tuch reicht, mit dem man sich zur Erfrischung das Gesicht betupft. Kurz bin ich verwirrt. Dann lege ich schafsbrav die Maske an. Beim Atmen beschlägt meine Brille. (An uns Brillenträger denkt bei all dem wieder niemand.)
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Die meisten Menschen verfügen nicht über die kognitiven und motorischen Fähigkeiten, eine Mund-Nasen-Schutzmaske korrekt anzulegen, zu tragen oder zu entsorgen. Ich sehe verrutschte und verschobene Masken; Leute greifen sich direkt darauf oder ziehen sie hinunter, um ins Offene zu husten. Aufgeweckte Kinder sausen maskenlos durch die Gänge, und ich denke nach über Details der Regelung – die ich später in Erfahrung bringen möchte.
Die Weltgesundheitsorganisation sieht im allgemeinen Mundschutztragen der Bevölkerung keinerlei Nutzen für die Eindämmung von Pandemien; rät davon sogar ab, da viele ein falsches Sicherheitsgefühl bekommen und sich zu weniger vorsichtigem Alltagsverhalten hinreißen lassen könnten. Es existiert keine wissenschaftliche Studie, die den Beweis einer positiven Wirkung erbringt. Irgendwo lacht jemand, dass wir uns für nix zu blöd sind.
Die ausgedachte Maskenpflicht wirkt wie eine weitere Eskalationsstufe einer perfiden Beschäftigungstherapie; wir bekommen immer komplexere Aufgaben, dürfen regelmäßig neue Verhaltensweisen einstudieren und verinnerlichen. Und kaum fragen wir uns noch, wie uns geschieht – sind die seltsamen Zeiten auch schon wieder vorbei.
Vielleicht wissen die Politiker sehr genau, was sie tun.
Kafka selbst war ein Fragment, die vage Skizze einer Person seines Namens.