Ich schließe die Augen.
Und ich sehe das Land in einer Woche und Europa in einem Monat und die Welt in einem Jahr, und ich sehe eine erschöpfte Alleinerzieherin, die sich heimlich am Klo einsperrt, zusammenbricht und heult, und ich sehe die mürbegeschuftete Ärzteschar in der Lombardei und die vielbeschworenen italienischen Verhältnisse, die unbedingt verhindert werden sollen, und ich sehe die Vereinzelten, die nicht einmal mehr abends allein die stummen Tresenlümmler geben, sondern die in Einsamkeit verenden, und ich sehe sie, die Währinger Buchhändlerin mit geschwollener Müdigkeit, wo einmal Augen waren, die über Nacht auf einen zuverlässigen Versandbuchhandel umgesattelt hat, die es gern tut, aber einfach nicht mehr kann, und ich sehe das Land in zwei Wochen und Europa in zwei Monaten und die Welt in zwei Jahren, und ich zähle sie auf, meine Schlaflosigkeiten, und ich schreibe, schreibe, schreibe, was ich weiß, und was ich nicht weiß, das schreib ich umso mehr, und ich sehe die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen am Werk und die Errungenschaften der Zivilisation niedergerissen, und die Auswirkungen der Entscheidungen, und ich höre von verschwiegenen Selbstmorden, um keinen Effekt auszulösen und Nachahmer zu motivieren, und ich sehe sie aus dem Fenster springen, die Arbeitslosen und die Bankrotteure – unschuldig verschuldet –, und ich sehe die Notenbank Geld drucken, Geld erschaffen und erfinden, um etwas am Laufen zu halten, das nicht mehr brummt, und ich sehe das Land in drei Wochen und Europa in drei Monaten und die Welt in drei Jahren, und ich sehe die barbarische Vernunft, stattdessen Risikogruppen zu isolieren, nicht alle und alles, nur die Alten, Schwachen, Vorerkrankten, und ich sehe das gefasste Rentnerpaar aus Opferbereitschaft mit Schmerztabletten sanft entschlafen – für die Wirtschaft – und ich schmecke ihn, den giftigen Orangensaft, in den der Tod gerührt ist, den wir trinken und trinken wie schwarze Milch, ich habe ihn auf der Zunge und ich lecke mir die Lippen, und ich sehe die verschobene Perspektive derer, für die sich allzu viel ja nicht geändert hat, die Staatsdiener und Balkonkräutergärtner und Hochspezialisierten, wie sie sich zurückziehen in ihrem Brotback-Biedermeier, für das ich sie zum Teufel und an den Strick wünschen könnte, wie sie Germ hamsterkaufen, und ich sehe das gefälschte Dokument, in dem jemand als unabkömmlich für eine Firma ausgewiesen wird, das er vorzeigt bei einer Polizeikontrolle, um unbehelligt über die Bundeslandgrenze zu kommen, und ich sehe das Land in vier Wochen und Europa in vier Monaten und die Welt in vier Jahren, und ich zähle rasant, was den Schlaf torpediert, und ich lese Triage, immer wieder Triage, und ich sehe sie verzweifelt tagen – antagen gegen etwas, dem sie nicht gewachsen sind –, die Mitglieder des Ethikrats, und eloquent abwägen, ob man es tun darf, ob man den Achtzigjährigen am Beatmungsgerät extubieren darf, wenn eine Dreißigjährige eingeliefert wird und kein Intensivbett mehr frei ist, ob man ihm den Luftschlauch aus dem Rachen reißen darf, dass seine Lunge kollabiert, ob man sein Leben opfern darf, um jenes einer Jüngeren zu retten, und ich denke, ja, man darf es nicht nur tun, man muss, man muss, man muss, wer sind wir sonst?, dann wären wir keine Menschen, dessen Zweck darin besteht, den Fortbestand unserer Spezies zu sichern, und ich sehe die norditalienische Fließbandsegnung der Särge und weiß, dass ich mich irre, und mein Irrtum ist jener der entkräfteten Verweiler, und ich höre die Leute mit schwärmerischem Blick den Sommerurlaub planen, weil sie glauben, dass sie fliegen können werden, und ich kann es ihnen nicht sagen, und ich sehe die Leute ihre Pläne schmieden, die nicht weit genug in der Zukunft liegen, sondern noch viel zu sehr in der Gegenwart, die zur neuen Normalität geworden ist, und ich weiß von einem, der zieht im Herbst zurück nach New York, und ich frage mich, weiß er es denn nicht?, wieso sagt es ihm denn keiner?, und ich sehe das Land in fünf Wochen und Europa in fünf Monaten und die Welt in fünf Jahren, und ich sehe New York, immer wieder New York, die Stadt der Städte, untergehen mit hochgetrotzter Freiheitsfackel, und ich höre sie klagen, give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free, gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, und ich sehe sie, die hastig Intubierten, wie sie frei zu atmen begehren, aber nichts kommt, oh, gebt mir eure Alten, eure Schwachen, eure Diabetiker mit Immuninsuffizienz, und ich sehe die Dame Corona, wie sie in mächtiger Strenge uns zu sehen ermahnt, und in wütendem Eifer das Feuer der Erneuerung erhebt und niederbrennt, was wir als sicher wussten, und ich sehe die Menschen in den bewaffneten Widerstand gehen, und ich sehe die Politiker ihre Ausgaben für den Personenschutz erhöhen, und ich weiß, dass es unsere Ausgaben sind, was wir uns leisten müssen, um zu funktionieren, und ich sehe die tägliche Fanpost, die der medienerprobte Chefvirologe wäschekorbweise von begeisterten Mitbürgern erhält – Comeback handgeschriebener Briefe –, die sich bedanken für sein nüchternes Einschätzen der Kurven, das ihnen zur Routine, das ihnen zur taktgebenden Tagesration Verstand geworden ist, und ich sehe ihn, den Vielbefragten, zürnen ob der sinnentstellenden Verkürzungen seiner abwägenden Aussagen im Minenfeld des Hochgeschwindigkeits-Journalismus, und ich sehe das Land in sechs Wochen und Europa in sechs Monaten und die Welt in sechs Jahren, und ich sehe sie, die abgehängten Schüler aus sozial benachteiligten Familien, gestützt über das Hausaufgabenheft am Esstisch am Schreibtisch, mit altem Laptop als Schild vorm Gequengel der Schwester, oh, ich sehe sie hocken und brüten und rechnen im beengten Zimmer eines schwülen vierten Stocks, sich plagen mit dem Schulausfall und den Anschluss verlieren, und ich frage mich, wie viele Gewächse unentdeckt bleiben bei gestrichenen Vorsorgeuntersuchungen, und ich sehe sie bösartig wuchern, und ich frage mich, wie viele Zwillingsschwangerschaften durch verschobene Kontrolltermine in vermeidbare Katastrophen abzweigen, und ich sehe die Frage, aber stelle sie nicht, und ich kenne die Antwort, aber gebe sie nicht, und ich sehe Kreuzfahrtschiffe als schwimmende Petrischalen und feiere die Wendung, und ich sehe sie auf Irrfahrt und krank irgendwo stranden, doch nicht mehr einfahren als Zerstörer in Venedig, das sie dem Untergang weihten, und ich sehe das Meer als sein eigener Raum, und ich denke in Tagen und ich denke in Wochen und ich denke in Monaten und ich denke in Jahren, und ich halte mich fest und ich schnalle mich an, und ich sehe Afrika, immer wieder Afrika, und ich denke an Kairo und ich denke an Accra und ich denke an Abuja und Harare und Dakar, ich sehe sie und kenne ihren Schmerz, und ich sehe die Welt, wie sie war, und die Welt, wie sie ist, und die Welt, wie sie sein wird, was wir an ihr tun, und i saw die besten minds meiner beat generation von Wahnsinn destroyed, ich saw sie hungernd hysterical naked, und ich heule mit den Wölfen und ich wandle mich vor Nacht zum bösen Tier mit Silberfell, zum Wermenschen, der vollmondig als angelheaded hipster durch allenlangen Ginsbergginster bricht, um lykanthropisch zu verenden, wie es kommt, und ich gehe dir aus dem Platz an der Sonne als falsch überlieferte Diogenese zurück in den Traum im Traum im Traum, und ich sehe das Land in sieben Wochen und Europa in sieben Monaten und die Welt in sieben Jahren, und ab übermorgen Mittwoch werde ich beim Einkaufen im Supermarkt eine Schutzmaske tragen, wie der Bundeskanzler sagt, mit souveräner gelackter Geschlecktheit, und der militante Innenminister, der verbal aufrüstet und rhetorisch eine Wehrmachtsuniform trägt, der Angst macht, Angst Angst Angst, und der Gesundheitsminister, dem vor lauter Stress längst die Haare ausfallen, der sich bald wieder feig davonstiehlt ins Burnout wie es eben seine grüne Art ist, und ich sehe ja, wie unmenschlich und unfair ich bin – und ich sah, dass es gut war – aber immerhin bescheiden, und wenn schon nichts wissen, dann es wenigstens dichten, und wenn schon nichts glauben, dann wenigstens fest, und ich bin nie der geworden, wer ich hätte können sein, und ich sehe das Land in acht Wochen und Europa in acht Monaten und die Welt in acht Jahren, und ich sehe die Veränderungen im Berufsleben – auch die wahren, guten und schönen –, ich sehe neue Berufsbilder, Produktgruppen, Dienstleistungen, und jemand kann nicht mehr, aber nicht können, das kann er ja auch nicht, und man darf sich die Verzagtheit niemals anmerken lassen, weil es das Starksein für die anderen untergräbt, und nachtlang weiß ich manches, das der Schlaf wieder zerschläft (Selbstzitat), und was sich lüstern erhebt aus den Schwingen der Nacht (Fake-Zitat), aber die Nacht hat einen einzigen Namen (Fremdzitat), und jedes Buch braucht ein strömendes Canto-Kapitel, damit es bei sich ist, und ich sehe die Partnerschaften mit getrennten Wohnsitzen – Not-Comeback des Cybersex –, und zwei Menschen, die sich wie Verbrecher fühlen, wenn sie sich verstohlen treffen bei einem der beiden, wie sie sich unbeholfen zurechtlieben in ihrer misslichen Lage, und ich sehe den Rechtfertigungszwang, noch Bedürfnisse und Sehnsüchte zu haben, trotz allem, und die Feuchte unserer Körper muss verführen, und ich sehe, wie bei der Sündenbocksuche der Trend zum Karnevalsrückkehrer geht, und immer wieder nach Tirol, und ich sehe das Land in neun Wochen und Europa in neun Monaten und die Welt in neun Jahren, und ich sehe mich satt am Erzählstrom einer Zeit, die nicht mehr unsere ist, und ich wundere mich satt über eine Geschichte, die erzählt werden könnte gegenläufig zum Zeitstrom, die stattfinden darf an befriedeten Orten des Geschehens, und immer wieder Afrika, und wie alle, die ohnehin nichts haben, auch noch das verlieren sollen, und vielleicht wäre es angemessen, wenn jene, die alles haben, das ebenfalls verlieren, um ein mögliches Gleichgewicht herzustellen, den Versuch des Versuchs des Versuchs, und wenn wir uns ausklinken aus dem kommenden Erneuerungsprozess, dann findet er ohne uns und unser Mitreden statt, und ich sehe, wie der Staub sich legt, und ich sehe das Messer und sehe das Fleisch, und sehe die Wunde und sehe den Schnitt, und sehe den Eiter und sehe das Blut, und sehe das Pflaster und sehe den Schorf, und sehe das Wunder und sehe die Zeit, und sehe die Sorge und sehe den Sinn, und sehe das Warten und sehe den Schmerz, und sehe die Narbe und habe die Narbe gesehen, und ich sehe die Leere der Plätze und Straßen, und ich höre das nachtlange Hupen der Alarmanlagen liebeskranker Autos, das niemand mehr erhört, und ich finde plötzlich allem eine Form und lade ein zur wahrgeschriebenen Gegenwirklichkeit, und ich sehe, wie der Staub sich gelegt haben wird, und ich sehe die müde Buchhändlerin erstarken, und ich sehe den Tresenlümmler stumm einen heben, und New York und den Germ und Orangensaftgift, und die Angst und die Dame und give me your Geld für die Wirtschaft, und ich sehe uns erzählen, wie es war, und uns sagen, wo wir stehen, und ich sehe mich schlafen, und ich sehe das Land in zehn Wochen und Europa in zehn Monaten und die Welt in zehn Jahren.
Ich öffne die Augen.