Zum ersten Mal seit Langem wieder in der U-Bahn. Die junge Frau an der Tür macht einen Schritt von mir weg, tiefer hinein in den Waggon. (Heute die Verlautbarung einer Maskenpflicht im Supermarkt. Rund zehntausend Anzeigen wegen Verstößen gegen die Maßnahmen soll es gegeben haben. Zehntausend.) Die junge Frau mustert mich und überlegt, wie viel Gefahr von mir ausgeht.
Die U-Bahn-Türen (der neuen Garnituren) öffnen automatisch, ohne dass jemand davor auf den Knopf drücken muss, um seinen Haltewunsch zu äußern.
Erstaunlich, wie man plötzlich jede Veränderung des Tagtäglichen – selbst die allerkleinste – registriert als große Irritation. Und es ist eine Menge an Veränderungen, die wir unentwegt erfahren, auf die wir reagieren, zu denen wir uns verhalten sollen. (Ermüdungserscheinung der Sinne.)
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Ich studiere den amtierenden U-Bahn-Hund. (In Tiergesichtern liegen Dinge offen.) Was für einer? Ich kenne mich bei Rassen so schlecht aus. (Im Nachhinein recherchiere ich ihn mir zum Golden Retriever.) Sein Beißkorb ist verrutscht wie so manche Atemschutzmaske der Passanten. Er sitzt ganz fromm und blickt auf zu seinem Frauchen, ob sie ihn gutheißt. Er wirkt müde, richtiggehend erschöpft; dabei aber keineswegs verzagt, sondern zufrieden. Vielleicht ist er einfach nur alt und macht nicht mehr so leicht jede Aufgeregtheit mit. Die Augen wirken ein bisschen enttäuscht. Der Hund ist gutmütig schwach.
Die Luft anhalten, wenn man an einer suspekten Person vorbeigeht.
Lichtschalter auswärts mit dem Ellenbogen betätigen.
Erwin Uhrmann sieht teilweise mehr das System bedroht als die Menschen. (Sind wir davon zu trennen?)
Lektorin Merle sagt: Sich beobachten und sich beim Beobachten beobachten, und sich beim Beobachten der Beobachtung beobachten. (Wer bin ich, ihr zu widersprechen?)
Ein tagealtes Rückschaubild: Die Kuchenschmugglerin nimmt einen verbotenen Schluck aus jenem Flachmann, den ein ehemaliger Mitbewohner bei ihnen vergessen hat. Er ist zurück in England, und ich frage mich, ob bei ihm alles passt.
Gehen ökonomischer Kollaps und ökologische Gesundung des Planeten Hand in Hand? (Zu allem fällt mir das rechthaberische Wort Gesundschrumpfen ein; sicher auch dort, wo es nicht hingehört.)
Bei Videochats in der Gruppe werden die Menschen angeordnet zu übersichtlichen Kacheln. Damit sich Gesprächsbrocken nicht zu sehr überlappen, behelfen wir uns teilweise mit einer Art improvisierter Tauchersprache: Daumen nach oben als Bejahung, Daumen nach unten als Verneinung, Winken als Begrüßung und Verabschiedung, Halsabschneiden als Hinweis auf technische Probleme.
Leider wohl ein zukunftsträchtiges Unterfangen, sich in dieser Richtung konsequent weiterzubilden: Zahlen, Warnzeichen für Luftknappheit, Bitte um Wiederholung des Gesagten, Zeichen die Tauchtiefe betreffend, Notfälle, Hinweise auf Boote und bestimmte Unterwasser-Lebewesen. Ich lerne, dass es genormte und ungenormte Zeichen gibt. Jeder Freundeskreis könnte anfangen, einen intern gebräuchlichen Soziolekt herauszubilden. Der virtuelle Raum ist unser Meer.
Die Paketboten halten Abstand. Sie verharren im Stiegenhaus, nähern sich nur widerwillig und in Ausnahmefällen der betreffenden Haustür; stattdessen werfen sie einem die abzuliefernde Ware gegen die Brust. Im Vorteil ist, wer in seiner Jugend passabel Basketball gespielt hat.
Wird es demnächst einen statistisch nachweisbaren Anstieg von Platzwunden und anderen Kopfverletzungen geben? Nimmt das Sprungtalent der Vielbesteller zu?
Mein Arzt-Freund behauptet, Zivildiener würden neuerdings dazu eingesetzt, in ungelüfteten Hinterzimmern des Krankenhauses das vierlagige Klopapier Blatt für Blatt in einlagiges auseinanderzufalten, um so eine Vervierfachung des Klopapierbestands zu gewährleisten, was vom Krankenanstaltenverbund als ressourcenschonende Maßnahme eingeführt worden ist. (Wundersame Fischvermehrung in Zeiten des heraufdämmernden Gesundheitsnotstands.)
Ich verliere das Vertrauen in meinen Arzt-Freund. Was ist noch Blödelei, was bereits von der Wirklichkeit eingeholt? Die Grenzen bleiben fließend. (Als Satire markieren.)
Entwicklungspolitische Siuation, habe ich wo in Krakelschrift notiert. Beim Wiederlesen mancher Zeilen werde ich aus meinen Fetzen nicht schlau; es sind Schübe, denke ich. Das Notizbuch ist zerfleddert (und beinah voll), bei den Bleistiften komme ich mit dem Spitzen kaum nach. Was soll das überhaupt heißen, frage ich mich, gibt es diese Wendung denn als gebräuchlichen Allerweltsbegriff – oder eben als Fachterminus? Das ist der Fall, und ich muss es irgendwo aufgeschnappt haben, ohne dessen tiefere Bedeutung zu verinnerlichen.
Manches deutet hin auf den Sturm vor dem Sturm vor dem Sturm. Atemlos zwar, aber sich dessen bewusst sein – denke, sage, schreibe ich.
Weltzugewandte Einsiedelei – weitschweifige Subenhockerei.
Jene, die vorher schon verrückt waren, sind jetzt klar im Vorteil.
Jemanden vermissen – und sich darin selbst vermissen.
Your quarantine nickname is how you feel right now and the last thing you ate. In meinem Fall:
Tired Spaghetti (Ungefähr so heißen doch wohl alle.)
Weitere Beispiele:
Stressed Leftovers
Depressed Cookie
Anxious Cracker (Doppelfund)
Horny Apple
Enraged Bolognese
Bored Banana Bread
Eine ferne Bekannte nutzt die frei gewordene Zeit für längst überfällige Aufräum- und Ordnungsarbeiten. Dabei schießt sie – wie sie selbst reumütig eingesteht – etwas übers Ziel hinaus, nämlich als sie dazu übergeht, eine Liste anzulegen, wie viele Bücher aus welchen Verlagen sie jeweils besitzt. Darauf muss man erst einmal kommen, denke ich.
Regelmäßig isst sie mit der – einzigen – Stockwerknachbarin zu Abend. Dazu stellt jede einen Sessel in die offene Tür, und so sitzen sie sich gemütlich gegenüber mit einigen Metern Abstand. (Auf dem Foto, das ich zum Beweis kriege, schätze ich ihn auf sieben bis zehn.)
In der Mitte steht ein Topf mit von der Nachbarin gekochtem Essen. Angerichtet wird streng nacheinander, der Deckel wird gelüpft mit einem Tuch. Neben dem Topf steht eine Flasche Wein, aus der sich jede abwechselnd einschenken darf. (Ich bilde mir ein, dass ich erzählt bekommen habe, wie manchmal jede ihre eigene Flasche neben sich stehen hat.) So wird feierlich getrennt zusammen gespeist.
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Wie viele dieser schrulligen Einfälle – die entstehen, um aus der Not eine Tugend zu machen – werden später beibehalten, werden sich als nützlich oder launig etablieren, werden den Sprung schaffen aus der Extremsituation in die friedvolle Geläufigkeit des Postcoronarismus.
Wie schön wäre es, endlich nichts mehr verstehen zu wollen.