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13 Sonntag, 29.03.2020

Es ist zwei Uhr früh, und ich erinnere mich daran, dass mein Vater – würde er noch leben – uns daran erinnert hätte, die Uhr eine Stunde vor zu stellen, von Winterzeit auf Sommerzeit. (Eine Stunde weniger nicht schlafen.)

Zufällig treffe ich meinen Bruder, und zufällig hat er ein bisschen Zeit, und zufällig gehen wir eine Runde spazieren. Wir vertreten uns die Beine in einem erst kürzlich errichteten Park mit künstlichen Hügeln zwischen den Spielgeräten. Die Bodenfläche ist rau und gibt einen starken Reibungswiderstand, sodass man selbst mit glatten Sohlen nicht so leicht abrutschen kann. Wir wandern von Hügel zu Hügel, besprechen dabei das Weltgeschehen, seine Darstellung in den Medien, die Pressekonferenzen, die Statistiken und Kurven, erzählen von uns. Dann wechseln wir in die Ebene.
Es gibt ein kleines Sonnenfeld, wir gehen auf und ab. Wie ein Hofgang im Gefängnis, sage ich. Mein Bruder trägt dazu passend einen labberigen Jogginganzug, denn später will er noch laufen im Prater. Wir achten darauf, uns nicht zu nahe zu kommen, halten streng die zwei, drei Meter ein. Wir gehen von Zaun zu Mauer, von Mauer zu Zaun. Echt wie beim Hofgang, sage ich, die eine Stunde Bewegung in der Woche. Mein Bruder lacht zustimmend.
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Wir reden über die abgesagte Fußball-Europameisterschaft und fragen uns, ob es nicht amüsant wäre, wenn irgendein Sender (wer hat sich denn unlängst mit wie vielen Millionen die Rechte gesichert?) die letzte Europameisterschaft von vor zwei Jahren in voller Länge als Wiederholung ausstrahlt; und zwar komplett, von der Auslosung der Gruppen bis zum Finale. Und alle geben vor, als sähen sie es zum ersten Mal und tun bei jedem Tor ganz überrascht. Das wäre doch etwas! Wäre das nichts? Also irgendetwas wäre das doch!
Mein Bruder sagt, es gibt ein paar Dinge, die jetzt unfreiwillig zurechtgestutzt werden. Der überhitzte Transfermarkt im Profifußball gehöre sicher dazu, oder das gegenseitige Überbieten der Billigflugfirmen mit wahnwitzigen Sonderangeboten. Vielleicht konnte es so nicht mehr weitergehen. Vielleicht wird irgendwann einfach alles zu viel – und dann ist es genug.
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Wir spazieren zufällig weiter zum Donaukanal, das trübe Wasser hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich. Ich frage meinen Bruder, was er so koche. Das Übliche, sagt er, Hühnergeschnetzeltes mit Reis, Kaiserschmarrn, Riebel – mit echtem Vorarlberger Riebelmais –, demnächst vielleicht wieder eine Lasagne. Genau das mache er doch immer, sage ich, dabei wäre doch jetzt die perfekte Gelegenheit, etwas Neues auszuprobieren, sich ein unbekanntes Rezept vorzunehmen. Du hast Zeit, und wo essen gehen kannst du auch nicht. Ich schlage ihm vor, sein Repertoire zu erweitern. Nein, sagt er, wichtiger scheine ihm jetzt, das Repertoire zu erhalten.
Wir klettern über Steine als brüderliche Seilschaft ohne Seil. Das Wasser flüstert ruhig. Unterwegs entdecke ich eine Behausung aus Stecken, mit der sich jemand sehr viel Mühe gegeben hat. Ein filigranes, doch stabiles Flussrandhaus, sehr super für Actionfiguren, die man dort hineingehen lassen kann. Baumeister war ein geduldiges Kind – bewacht von nicht minder geduldigen Erziehungsberechtigten. Da waren wieder die Donaubiber am Werk, sage ich. Dieses minutenlange Steineklettern mit dem Bruder werde ich behalten.
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An einer Straßenecke mit Mistkübeln verabschieden wir uns. Ich verbeuge mich und sage Namasté. Dann machen wir den Gruß der Vulkanier aus Star Trek, jeder spreizt seine Finger zum Schlitz in der Hand. Wenn das alles vorbei ist, schauen wir wieder gemeinsam eine Folge The Next Generation. Zufällig wird das bald sein. Denn mein Bruder und ich, wir sind Meister des Zufalls. Live long and prosper, sagen wir. Ich gehe einkaufen. Und mein Bruder geht joggen in den Prater.

Der Gedanke, das Gefühl, die Ahnung, die Sorge, die Gewissheit – nicht zum Arzt gehen zu können. (Am Tag, da ich mir böse drei Zehen anhaue und sich die eine burgunderrot verfärbt.)

Im Ungargassenland kommt mir eine Lächlerin entgegen, sie trägt einen Hosenanzug und hat einen adretten, teerschwarzen Bubikopf. (Wer lächelt, wirkt; oder, zugeneigter gesagt: wer lächelt, setzt Vertrauen in die Welt.)

Die letzten Tage der Menschheit
Die seltsamen Zeiten der Menschheit

Im ersten Bezirk hängt an der Kirche Maria am Gestade folgendes Banner:
Nur Mut,
Gott lenkt
alles
Es baut mich auf.

Ich mach es wie der Messenger – bin derzeit nicht aktiv.

Schwindel des zu schnellen Aufstehens – taumelnde Sekunden.

Es verliert einfach nie an Komik, dass einen an der Busstation eine sachliche Frauenstimme über Lautsprecher dazu auffordert, sich bitte die Hände zu waschen sowie in Ellenbeuge oder Taschentuch zu husten und zu niesen.

Arzt-Freund nach einer zehrenden Nachtschicht: Es ist nicht so, dass wir gar nichts haben; aber das, was wir haben, ist wenig. (Die Einweg-Schutzmasken werden jetzt wiederverwendet.) Der Arzt-Freund ist ein Philosoph. Ob er es weiß?

Ein ausgangsbeschränkter Spaziergang wird zum gelungenen, wenn auch kurzen Stadtparktag.
Etwa eine Stunde verbringe ich dort. Dabei habe ich immer das Notizbuch gezückt, um alles einzufangen. Ich werde – hoffentlich – niemals wieder die vertrauten Orte meiner Stadt in einer solch eigenartigen Stimmung erleben. Es liegt an mir, sie einzufangen und für mich zu konservieren.
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Die Menschen tanken Sonne. Sie verbringen den Tag mit Abstandhalten und Anstandwahren.
Dort balanciert ein Mädchen über Holz, dort wirft ein Bursch einsam Körbe, dort liest eine Teenagerin hustend im Gras, dort treten zwei Geschwister in die Pedale und drehen lustig ihre Runden. Dort frohlockt ein angeschnalltes Baby aus seinem Kinderwagen, es jauchzt auf, dass die Mutter stehenbleibt und sich daran erfreut. Na, fragt die Mutter das Kind, hast du es fein? Dort küssen sich welche und werden nicht satt. Dort geht eine Mutige im Schaukeln aufs Ganze. Dort tapst ein Zwerg den bangen Satz. Dort schiebt sich ein Knirps einen Zopf in den Mund. Dort wartet eine alte Frau auf etwas, das nicht kommt. Dort sind zwei beisammen und dort ist wer ganz bei sich. Ich weiß es, denn ich habe es gesehen.
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Drei Polizisten kontrollieren schlendernd das Einhalten der Bestimmungen. Sie wirken entspannt und haben nichts zu beanstanden; nirgendwo sehen sie den Ansatz einer Gruppenbildung oder Menschen, die anderen zu nahe kommen. Unter der Uniform sind sie Onkel, Mütter und Nichten, Bandkollegen und Schachpartner. Dort gehen Polizist und Polizistin wie verliebt.
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Ein unsichtbarer Klarinettist spielt O sole mio, und er spielt damit den Frühling, und verspielt sich nicht einmal. Ich finde ihn am Einschwenk zur Brücke. Er spielt uns. Ich streue ihm ein paar Münzen in den Hut, zwei abwartende Mädchen tun es auch. Mir ist bewusst, dass wir Bargeld derzeit eher vermeiden sollten.
O sole mio ist das, was man zu singen beginnt, wenn man sich über Oper lustigmachen will, über die Künstlichkeit des Gesangs. Dann schmettert man es vor lauter Bruststimme tief aus sich heraus und gibt den Pavarotti mit Bart und Bauch und Zähnen. Nie habe ich mich gefragt, worum es in dem Lied eigentlich geht. Erst zurück daheim suche ich nach einer Übersetzung.
O sole mio – neapolitanisch für Meine Sonne:
Wie schön ist ein sonniger Tag
Die klare Luft nach einem Sturm
Die frische Luft wirkt wie ein Fest
Wie schön ist ein sonniger Tag
Ich lehne mich gegen die Mauer und höre ein bisschen zu. Dann bemerke ich, dass ich mich gegen die Mauer lehne und gehe weiter. Es gibt hier viel Taubendreck, doch er ist eindringlich weiß und sieht sauber aus.
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Ein Blondschopf tut, als ob er lernt; ich hoffe, dass er sich auf seine Prüfung halbwegs gut vorbereiten kann. Japanische Eltern ermuntern den Sohn, auf dem Foto zu lächeln. Eine Frau sitzt neben ihrem abgestallten Fahrrad und hat eine tiefliegende Sorge im Blick, die niemand ihr nehmen kann. Ein magerer Hippie meditiert mit freiem Oberkörper auf der Wiese; die Sonne meint ihn, wenn sie scheint. Eine gepflegte Dame hält sich den Schal vors Gesicht. Ein Kind fragt, was hier eigentlich los ist. Ein junges Paar liegt stumm und denkt an nichts.
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Mein Blick ist geeicht auf den Meterabstand, den wir einhalten sollen. Wir sind verboten. Ich frage mich, wie lang es dauern wird, bis wir einander nicht mehr aus dem Weg gehen, bis wir einander nicht mehr argwöhnisch beäugen als vermeintliche Gefahr, wann wir ihn uns wieder abgewöhnt haben werden – den höflich ausweichenden Schritt.
Wir sehen einander an wie etwas, das uns nicht mehr gehört.
*
Banknachbarn – Fremde – beginnen ohne Scheu ein Gespräch. Sie erzählen einander ihren Tag oder ihr Leben. Es geht allen gleich, wir sitzen alle im selben Boot. Manchmal wissen wir es. Der Stadtpark wird müde, bleibt aber wach. Das hier, denke ich, ist keine Idylle, sondern etwas anderes, das nicht weniger ist: Artgenossenschaft als Widerstand. Wenn wir sie uns merken, haben wir viel gelernt.
Wie schön ist ein sonniger Tag. Dort hören sie gern Musik. Dort streichelt einer wen. Dort ärgert sich wer, lässt es dann aber bleiben. Die klare Luft nach einem Sturm. Dort jammert eine, ob das Eisgeschäft öffnet. Dort stolpert einer harmlos übers offene Schuhband. Dort flattert einer grob das weite Kleid. Die frische Luft wirkt wie ein Fest. Dort nickt der Polizist wem zu in freundlichem Ernst. Dort gibt es was zu lachen. Dort bleiben wir anders, dort leben wir neu. Wie schön ist ein sonniger Tag.
Plötzlich wird mir klar, wie alles endet. Ich sehe, dass die Menschen eine komplizierte, einfallsreiche, unschuldige, liebenswerte Spezies sind. Und wäre ich ein Gott, ich würde ihnen verzeihen.