Nachts treffe ich die Kuchenschmugglerin. Noch im Hingehen erfinde ich den Refrain eines Liedes – Text und Melodie –, das ich zunächst einmal probeweise vor mich hin summe, um es anschließend sofort in den Voice Recorder des Smartphones zu singen:
Dann treffma uns halt illegal am Stephansplatz
Obwohl von uns ja keiner was verbrochen hat
Das Lied ist im Dreivierteltakt und passt zu meiner raunzigen Walzerseligkeit. Auf den gesungenen Refrain folgt eine eingängige Melodielinie, die mich seitdem hartnäckig als Ohrwurm begleitet. Während des Hinwegs wiederhole ich mein Lied ein paar Mal laut. Es ist mir nicht peinlich. Ich singe es gern.
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Die Kuchenschmugglerin wartet am vereinbarten Treffpunkt. Wir bleiben auf Abstand. Legen Sie es hin, sage ich. Sie nimmt etwas aus dem Stoffbeutel, es schimmert matt. Sie legt es auf eine Steinbank vor dem Kircheneingang. Dann tritt sie einige Schritte zurück. Ich nähere mich mit der abgeklärten Vorsicht des Bombenentschärfers. Das abgelegte Objekt ist mit Alufolie umwickelt, auf die jemand mit Filzstift einen rudimentären Smiley getupft hat, der einen spöttisch mustert.
Meine Mitbewohnerin hat einen Zitronenkuchen gebacken, sagt die Schmugglerin.
Danke, sage ich, das ist sehr nett.
Die Mitbewohnerin arbeite in einer Bäckerei in der Innenstadt und wisse, wie man etwas so verpacke, dass man es nicht berührt.
Am nächsten Tag – frühmorgens – schlinge ich beide Stücke mit dem ersten Arbeitskaffee herunter. Der Zitronenkuchen schmeckt vorzüglich, er ist saftig und nicht zu süß.
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Das nächste Mal treffe ich die Kuchenschmugglerin bei Wien Mitte. Die Übergabe geschieht sinnigerweise vor einer (geschlossenen) Konditorei. Es handelt sich um ein großzügig bemessenes Stück Patzerlgugelhupf, in dem köstliche Nester aus Powidl, Mohn, Topfen und Haselnussgatsch eingelagert sind; die knusprige Oberseite ist mit Staubzucker bestreut. Die Bombe wiegt schwer im Beutel, den ich zum Heimtragen an mich nehmen durfte. Die Kuchenschmugglerin hat den Gugelhupf selbst gebacken.
Zurück in der Wohnung koste ich direkt aus der Alufolie. Der Germteig ist gut spröde und die Füllungen ein miteinander ringender Genuss. Den Rest hebe ich mir für später auf.
Idee für ein Kunstprojekt: Capture Corona (Arbeitstitel).
Eine Sammlung von Screenshots unserer Videochats. Natürlich gab es diese schon vorher, auch das Teilen sehr privater Momente in Fernbeziehungen oder bei Zusammenkünften von Familienmitgliedern, die in unterschiedlichen Ländern wohnen und keine Besuchsmöglichkeit haben. (Ich denke an Großeltern, die den ersten Blick aufs frisch geschlüpfte Enkelkind über den Bildschirm werfen.) Doch die seltsamen Zeiten sind anders.
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Wir treffen uns mit Menschen auf einen Kaffee, wobei jeder daheim in der Küche sitzt; Menschen in derselben Stadt, denen wir unter anderen Umständen regelmäßig begegnen würden. Abends gehen wir auf ein Bier mit guten Freunden. (Für heute hat sich bereits der fix und fertige Arzt-Freund angekündigt; der Anwalts-Freund hat Sorge um das samstägliche Mehrgangmenü und lässt sich sehr bitten.) Auch Videokonferenzen gab es in der Berufswelt; plötzlich aber halten sie auch dort Einkehr, wo sie zuvor undenkbar waren.
Im Privaten etablieren sich Gruppenchats – neulich waren wir zu acht und hatten vier Fenster gleichzeitig offen, haben in die Kamera angestoßen mit unseren Gläsern und Flaschen. Diese Erfahrung ist fremd und neu und höchst absonderlich; und unter den gegebenen Umständen sehr beglückend als bester Versuch der Geselligkeit. (Bildschirme als Wahrheitsbehaupter.) Diese Beweise unserer zukünftigen Vergangenheit, diese Stichwortgeber unserer Erinnerung, muss man in großer Zahl abspeichern und festhalten und fixieren. (Der Sammelvorgang als soziale Plastik.)
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Der Titel Capture Corona hat eine Doppel-, nein, sogar eine Dreifachbedeutung, die einen angenehm kitzelt an einer Stelle im Kopf. Capture meint den technischen Vorgang des Einfangens, also das Herstellen des Screenshots. Capture meint auch das Infiziertwerden mit dem Virus, vor dem wir uns und andere durch unser Verhalten bewahren wollen. Und zu guter Letzt meint Capture auch das Einfangen der Ereignisse, des Phänomens Corona als historisches, weltumspannendes Ereignis.
Von den – abzuwendenden – Verheerungen, den Kranken und Toten, den Benachteiligten und Abgehängten soll – und muss – und wird – die Rede sein. Capture Corona wiederum soll einen positiven Aspekt der seltsamen Zeiten abbilden: die Möglichkeit des virtuellen Zusammenrückens bei physischem Abstand, das Aufrechterhalten und Erneuern starker freundschaftlicher Bande in virtuos getanzter Parallelbewegung zum social distancing.
Konkret denke ich an eine simple Plattform (betrieben von einem Museum?), auf der User anonym die Screenshots ihrer Chats hochladen; mit oder ohne Registrierung und Profilerstellung, unbedingt jedoch mit Einverständniserklärung zur Weiterverwendung des Materials für künstlerische Zwecke. (Das Einhalten der Datenschutzgrundverordnung muss gewährleistet sein.)
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Das Projekt kann einerseits im virtuellen Raum stattfinden, als stetig wachsendes Bild-Archiv, das durchforstet oder als Environment in der virtual reality aktiv betreten und durchstreunt werden kann. Andererseits jedoch soll es den Sprung zurück schaffen in die echte, die physische Welt; so erlauben wir dem Virtuellen als Notlösung das Eintreten in die greifbare Wirklichkeit, zu der es strebt.
Ich sehe eine klassische, betretbare Ausstellung. Digitale Screenshots werden auf Leinwand gedruckt und gehängt. Capture Corona erlöst so die eingefrorenen Gesichter – das beduselte Kichern, den neutralen Meeting-Mund – der Chatlinge wie die spukenden Geister von Toten, die noch etwas Unerledigtes im Reich der Lebenden hält. Dann suchen uns die Bilder nicht mehr heim.
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Ich möchte das Projekt samt Arbeitstitel und Konzept-Skizze verschenken, und selbst darin nicht mehr involviert sein. (Obwohl mir noch so manche Idee ausbrütenswert erscheint, muss ich aufpassen, kein peinlicher Corona-Gschaftlhuber zu werden. Oder bin ich es schon?)
Capture Corona steht zur freien Verfügung.
Idee für ein Fotoprojekt: Ablichten der menschenleeren Straßen und Plätze.
Möglicher Titel: Die Welt ohne uns
Oder: Wir ohne uns
Wird sicher bereits überall umgesetzt. Hier geht es darum, schneller, besser, umfangreicher – unbedingter – als die anderen zu sein. Ich wundere mich über jeden Fotografen, der nicht draußen unterwegs ist und die seltsamen Zeiten einfängt. (Sogar über jeden Menschen, der eine Kamera besitzt, ein bisschen Zeit hat und halbwegs bei Sinnen ist.)
Idee insgesamt: Vielleicht für einen Tag einmal gar keine Idee haben, sondern im Kopf die Goschn halten. Nur einen kühlen Sonnensamstag lang.
Ein virtueller Kaffeeplausch mit dem Schriftsteller Erwin Uhrmann. Von Bücherwand zu Küchenblick. (Er hat ein hintergründiges Lächeln, dem man das stille Denken mit messerscharfem Verstand ansieht; sein akkurater Vollbart ist gepflegt und irgendwie gesund.) Wir treffen uns nicht oft – vielleicht alle paar Monate einmal –, doch jedes Mal führen wir ein erhellendes Gespräch, das für einige Zeit in mir nachwirkt. (Gute Gesprächspartner erkennt man nicht zuletzt daran, dass man selbst zum besseren Gesprächspartner wird, man sich im Antworten und gemeinsamen lauten Nachdenken über die Dinge plötzlich Sätze sagen hört, die klüger sind als man selbst.)
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Ich erzähle ihm von meiner Idee zu Capture Corona. Er hört es sich geduldig an, nickt langsam. Allerdings schlägt er vor, dass ein Künstler diese Screenshots dann auf Leinwand malen sollte.
Stimmt, denke ich, so gelänge eine noch tiefere und vollständigere Rückführung des Virtuellen in die Wirklichkeit; die sterile Kälte einer Bildschirmspiegelung erhält so die Haptik und Oberflächenstruktur einer Farbschicht. Durch den Akt des Malens eignet sich der Mensch sein eigenes Bild wieder an, das er sich von der Maschine (freiwillig) hat wegnehmen lassen. Diebstahl oder Geschenk wird so durch Menschenhand entschärft zu offenem Borgen.
Mit einem Bein lebt und arbeitet Erwin in der Kunstwelt. Gemäldewerdung von Videokonferenzen oder Chat-Portraits mag es früher schon in ähnlicher Form gegeben haben, doch alles ist Kontext – das weiß er besser als ich. (Neben dem eigenen Schreiben kuratiert er eine Lyrikreihe; daneben wirkt er als Kommunikationsdramaturg – geheimnisvolle Berufsbezeichnung, die ich mir nie merken kann.)
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Erwin sagt: Was wir derzeit erleben, das sind die Auswirkungen der Normalität auf die Krise, aber bald, in ein paar Monaten vielleicht, wird es umgekehrt sein, und wir erleben die Auswirkungen der Krise auf die Normalität. (Bist du deppert, denke ich, das ist deep.)
Der Postler stellt vor meiner Haustür einen riesigen Karton ab, der mit vergnügtem Klebeband umwickelt ist. Sodala, brummt er, da kommt das Spielzeug. Ich weise ihn darauf hin, dass ich nichts bestellt habe. Wir kontrollieren die Anschrift: Haus- und Türnummer stimmen zwar, doch Name und Straße sind falsch. Der Postler entschuldigt sich: Mein Fehler. Er nimmt den Karton wieder mit. Ich hätte den Mund halten und das Spielzeug entgegennehmen sollen.
Nach zwei Wochen pendelt sich alles ein auf einen erträglichen Normalstress.
Jede Krise ist eine Frage; und jede Antwort sind wir selbst.
Angeblich wurde in Frankreich bei Intensivbetten ein Alterslimit von fünfundsiebzig Jahren eingeführt. Ich traue mich nicht, zu recherchieren, ob es stimmt.
Hätten wir uns jemals träumen lassen, dass es zum subversiven Akt werden könnte, sich zu umarmen?
Musikvideos sind Kurzfilme mit viel Soundtrack.
Der Arzt-Freund schickt mir das Bild einer Tafel, die vorm asiatischen Supermarkt aufgestellt wurde:
ACHTUNG (in empörtem Rot)
VOR DEM
BETRETEN
BITTE
DESINFIZIEREN
DANKE
Dazu der Verschicker: Wenn du reingehst kommt wirklich ein Chinese mit der Sprühflasche Desinfektionsmittel daher! (Ich weise ihn sanft darauf hin, dass ich Beistrichsetzung in Zitaten grundsätzlich nicht korrigiere.)
Später leitet der Arzt-Freund ein von einem Kollegen weitergeleitetes Zitat unbekannter Herkunft weiter: Uganda has more government ministers than intensive-care beds.
Am Geschäftseingang ein Zettel mit windschiefer Kugelschreiberschrift:
Lieber Postmann,
Bitte klopfen Sie die Tür
Bei Bedarf
Vielen Dank
(Das Notieren und Kopieren und Archivieren und Dokumentieren der Zettelfunde wäre ein eigenes Projekt, eine eigene Disziplin, die ich mir nur am Rande aufhalsen darf.)
Ich bin gerade irgendwo anders, auf eine gute Art; und genau dort, wo ich hingehöre.
Einander begegnen in verzweifelter Erregung.
Unerbittlicher Begriff: Hygienestandard
Wenn ich Tirol wäre, dann würde ich ebenfalls um meinen Ruf bangen.
Gelungener Verleser bei der Bildunterschrift einer privaten Winterszene. Ich trotze der Kälte draußen – wird zu: Ich strotze vor Kälte draußen.
Erst die Arbeit und dann die Arbeit. (Und man täte gut daran, wenn es gleichzeitig das Vergnügen ist.)
Wer archiviert das Jetzt?
Wir alle werden uns später die Frage gefallen lassen müssen, ob wir uns brav zurückgelehnt und Brot gebacken haben oder von Anfang an – bereits in der Kernzeit der Krise, der Phase reiner Schadensbegrenzung – alle zusätzlich vorhandene Energie investierten, einen dringend notwendigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel herbeizuführen.
Frage: Wie geht es dir?
Antwort: Auf meine Weise gut.
Mit leuchtenden Augen: Was das für ein Schauspiel sein wird, da sich die Welt danach wieder erhebt.