Beim nächsten sogenannten Zukunftsforscher, der im Ton herablassender Selbstaufgeilung die banalsten Offensichtlichkeiten absondert, schmeiß ich mich durch den Bildschirm und spring ihm an die Gurgel. (Der deutsche Obertrottel schickt jetzt auch seinen Klon-Sohn auf den Medienstrich; fürs österreichische Fernsehen ist sich der Schmied natürlich wieder zu blöd und setzt den Schmiedl hin.) Ich tausche alles, was die zwei Trendgurus im Laufe ihres ertragreichen Arbeitslebens noch von sich geben werden, gegen einen einzigen Satz meines Postlers – da lerne ich mehr.
Ich ekle mich vor Geld, vor Münzen mehr als vor Scheinen. Dieser Geldekel, denke ich, muss in gewisser Weise auch ein Selbstekel sein, denn wir sind es, die es ständig mit uns herumtragen und einander in die ungewaschenen Hände legen. Das auf dem Geld, vor dem ich mich ekle, das bin eigentlich ich und das sind die anderen mit ihrer übertragbaren Verschwitztheit. Geldekel ist Menschenekel.
Steigen auch Sie ein ins hektische Business der Domain-Broker. Das Prinzip ist einfach: Voraussehen, welche Internetadresse in Zukunft Bedarf finden könnte, diese erwerben, und sie schließlich zu einem späteren Zeitpunkt mit deftigem Aufschlag weiterverkaufen. So weit, so banal. Nun herrscht (wie in so vielen Branchen) Goldgräberstimmung.
Wir befinden uns am Beginn eines historischen Ereignisses, womöglich sogar am Anbruch einer neuen Epoche. In vielerlei Hinsicht wird der Reset-Knopf gedrückt, werden die Karten neu gemischt. Wer jetzt in der Lage ist, gleichermaßen rasch wie hochkonzentriert zu handeln, verschafft sich einen Startvorteil in der neuen Normalität.
Jedwedes existierende Produkt und jedwede bereits vorhandene Dienstleistung kann potentiell in den Corona-Kontext gesetzt werden. Wir empfehlen das frühzeitige Sichern diverser Internetadressen; diese sollten einerseits spezifisch genug sein, um eine konkrete business opportunity abzubilden, andererseits jedoch so pauschal gehalten werden, dass sie eine gewisse Allgemeingültigkeit beibehalten. Lassen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf!
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Als besonders zukunftsträchtig erachten wir das Sichern von Adressen, die im Zusammenhang stehen mit psychologischer Betreuung, Therapie von Angststörungen, Selbstfindungstrips, Meditation, Coaching oder Lebensberatung. (Im ersten Zeitfenster für die Betreuung von Akutfällen; als mittel- und langfristige business vision zur Linderung von Panikreaktionen und Stress-Symptomen während der kommenden Jahre.) Ein paar Beispiele:
http://www.corona-detox.com
http://www.coronahelp.com
http://www.coronacoach.com
Ebenfalls sinnvoll erscheinen uns diverse Wortspiele und naheliegende Verballhornungen wie:
http://www.mycorona.com
http://www.coronarrativ.com
http://www.corona-türlich.de
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Desweiteren empfehlen wir das Erspüren von kommenden Produkten und neuartigen Dienstleistungen in bekanntem Zusammenhang (Professionelle Desinfizierung von Räumen und Gegenständen, Gütesiegel für Keimfreiheit, Standardisierung von Nahrungsmittelerzeugung.) Auch hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
(Achten Sie auf das zeitgleiche Sichern von lokalen und internationalen Endungen, stets verbunden mit der jeweils abgeänderten Schreibweise. Globale Probleme erfordern globale Lösungen. Identifizieren Sie dringend mögliche Abwandlungen oder Zusätze wie Bindestriche – der Bindestrich gilt nicht ohne Grund als die Nemesis des unachtsamen Domain-Brokers.)
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Sichern Sie sich die Adressen für Internetauftritte von zu erwartenden Buchprojekten, Ausstellungen, Filmen (Dokumentationen ebenso wie fiction) und Fernsehserien. Zur Inspiration:
http://www.corona-zombies.com
http://www.coronapocalypse.com
http://www.coronacatastrophe.com
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Achtung – Universalfaustregel: Auch banale Flüchtigkeitsfehler und auf die Rechtschreibschwäche der User zurückzuführende Falscheingaben sollten Sie klug vorwegnehmen:
http://www.meicorona.com
http://www.koronatif.com
http://www.corronokalüps.org
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Das Antizipieren von medizinischen oder pharmazeutischen Beratungsseiten versteht sich von selbst. Nicht unter den Tisch fallen sollten dabei lokal spezifische Angebote, also Orts-, Städte- und Landesnamen verbunden mit einem sinnvollen Corona-Kontext. (Dankbarer und spendierfreudiger Abnehmer könnte hier die jeweilige Regierung oder ein Ministerium sein.) Merke: Regional denken, global kassieren.
Der Domain-Broker blickt in die Zukunft, und zwar weiter als der Normalsterbliche. Malen Sie sich realistische Szenarien aus, und bei den abwegigen gambeln Sie munter drauflos, schließlich soll das Ganze ja auch ein bisschen Spaß machen. Werfen Sie im launigen Domain-Freestyle Ihre Adress-Angel sehr weit hinaus – und seien Sie nicht enttäuscht, sollte sich erst in ein paar Jahren der gewünschte Erfolg einstellen. Vertrauen Sie uns: Langer Atem zahlt sich aus. Wir empfehlen intensive Recherche und gemäßigte Spekulation in den folgenden Bereichen:
Armutsbekämpfung
Organhandel
Impfgegner
Verschwörungstheorien (Laborentwicklung, Weltbevölkerungsreduktion, Seuchenerfinder)
Überwachung
Digitalfaschismus
Nicht selten sind wir mit dem Vorwurf konfrontiert, in unserem Bestreben der Gewinnmaximierung etwas pietätlos, ja, sogar zynisch zu sein. Nun, da sagen wir: Carpe diem. Und: Abducet praedam, qui occurit prior. Und vor allem: Lieber ein satter Zyniker als ein hungernder Moralapostel!
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Vergessen Sie niemals das oberste Prinzip der Domain-Broker: Don’t do it yourself! So mancher Adressen-Verscherbler erliegt der Versuchung, ein herbeiphantasiertes business model selbst umzusetzen. Auch Sie mögen jetzt vielleicht denken: Also, das mit dem Corona Detox, das ist doch eine wunderbare Sache; ich miete mir irgendein Gelände, auf das ich ein paar windschiefe Indianerzelte setze, oder ich erstehe günstig ein Seminarhotel mit Thermen-Anbindung irgendwo im Salzkammergut, engagiere ein paar unseriöse Esoteriker und erlöse die urbanen Besucher von ihrer Corona-Überforderung, ich lasse sie den ganzen Stress-Ballast herauskotzen und die ganze Herzscheiße wegtanzen. Da rasselt die Kassa. Vorsicht.
Wir sagen: Tun Sie das nicht! Denn: Sie können es nicht! Glauben Sie uns, Sie können es einfach nicht. (Schuster, bleib bei deinem Leisten.) Kaufen Sie einfach die Domain – und verkaufen Sie die Domain an den Meistbietenden. Die Einrichtung selbst muss ein anderer aufziehen, jemand vom Fach oder ein geschäftstüchtiger Opportunist. Vergessen Sie nie: Ein business kann scheitern, doch bis dahin ist die Adresse längst verkauft. Für Sie gilt: Geringes Risiko, großer Ertrag.
Heute ist wieder viel Sprache in dem, was zu schreibst. (Ein bisschen zu viel.)
Die Begriffe der Unerbittlichkeit:
Übertragungsrate
Basisreproduktionszahl
Gesundheitszeugnis
Infektionsgeschehen
Haftungsrahmen
Notverstaatlichung
Intensivbett
Schulterschluss
Lastwagenstau
Epidemiegesetz
Selbstübersetzung einer Gedankensprache in erfundenen Wortschatz; dabei entstehen beglückende Fremdklänge. Sich in einer Feinwahrnehmung schulen; niemals sich ganz über den Weg trauen.
ZEIT-Leser in Sorge: Ist mein Abo sicher? (Jetzt, wo die ganzen schönen Kreuzfahrten ausfallen.)
Zu einem tatterigen Spazierer auf der Straße: Hallo, Mister Risikogruppe!
Welche Jahreszeit hätten wir jetzt eigentlich?
Ein Arzt ohne ausreichende Mittel kann lediglich den Tod verwalten. (Und wird daran verrückt.)
Solidarität ist Eigennutz. Erlässt der Hauseigentümer dem kleinen Friseursalon im Erdgeschoss für einen oder zwei Monate die Miete, sodass dieser nicht bankrottgehen und alle Mitarbeiter entlassen muss, wird es nur zu seinem Vorteil sein. Verschwindet der Salon, fallen auch in Zukunft die Mieteinnahmen weg. Verzichtet der Hauseigentümer (sofern er es sich leisten kann; und meistens kann er es) vorübergehend auf Einnahmen, sichert er das Überleben des Betriebs – und auf lange Sicht den Geldfluss in die eigene Tasche. Mit der Dankbarkeit und Verlässlichkeit des Unterstützten kann er ebenfalls rechnen. (Marx für Arme?)
Auch die Wirtschaft braucht Konsumenten, die über ausreichend Mittel verfügen, einzukaufen. Es ist im Interesse der Firmen, Armut massiv zu bekämpfen; so bleibt der Kreislauf stimuliert.
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Shareholder führen gern ein komfortables, genussreiches Leben. Sie lieben es, durch Städte wie Paris und New York zu flanieren, oder mit dem Cabrio einen Abstecher ins kleine (authentische!) italienische Bergdorf zu machen, wo sie beim herzlichen Fabrizio einen kleinen Happen essen und eine Flasche Hauswein bestellen. Es wäre ja ganz nett, wenn diese Orte nicht zu einem Moloch aus Krankheit und Kriminalität werden, sondern über eine stimmungsvolle Atmosphäre mit halbwegs zufriedenen Bewohnern verfügen.
Auch Topmanager haben Töchter, die frühmorgens durch den Central Park joggen, und sie schätzen es womöglich, wenn diese nicht überfallen werden. Auch Hollywoodstars reisen hoffnungsfroh nach Indien als anonyme Rucksacktoursiten, um eine ayurvedische Entschlackungskur zu machen oder zu sich selbst zu finden, und könnten auf den Gestank von klaustrophobischen Latrinen gern verzichten. Auch Multimillionäre und Multimilliardäre profitieren von einer Welt als kollektivem Möglichkeitsraum, in dem die Schwächsten nicht durch den Rost fallen, sondern die Teil sind einer kooperativen Verflechtung. Wir alle profitieren von der Förderung des benachteiligten Jugendlichen, der später das eine Lied singt, den einen Film dreht oder die eine Erfindung macht.
Für jene, denen Mitmenschlichkeit allein noch nicht reicht als stichhaltiges Argument, die ungern hinterfragen, inwiefern das eigene Verhalten den Bedürfnissen anderer zugutekommt, die es nur pragmatisch und faktenbasiert verstehen: Zahlen lügen nicht – Solidarität ist Eigennutz.
Immer wieder die Vorstellung, meinen Altersgenossen, den Bundeskanzler, am Ohrwaschl zu nehmen; ein bisschen ermunternd, ein bisschen ermahnend – aber sehr zärtlich.
Alle Aspekte des Corona-Phänomens zweigen ab in ihre jeweiligen Teilaspekte, die sich wiederum verjüngen in filigranste Verästelungen, denen man mit den Mitteln höchster, langanhaltender Konzentration hinterherdenken muss. Es stellen sich alle Fragen, gleichzeitig und laut; allesamt Gretchenfragen.
Jene der Medizin (Virologie, Wirkstoffstudien, Triage) und jene der Politik (Grenzen der Demokratie, Wiedererstarken des Lokalpatriotismus, Krisenmanagement, Verwaltungsapparat, Aushebelung des Rechtsstaats, Redefreiheit, Versammlungsrecht, Überwachung als Kinderstube des Totalitarismus) und jene der Justiz (Verhandlungen, Besuchsrecht, Vollzugslockerung, Freigang) und jene der Ethik (Schüren des Generationenkonflikts, gezielte Infizierung junger Ärzte als immunisierte Reserve, Herstellung einer Herdenimmunität) und jene der Ökonomie (Verteilungsgerechtigkeit, Wirtschaftseinbruch, Arbeitslosigkeit, Wandel der Arbeitswelt, Sackgassen der Globalisierung, Etablierung neuer Modelle, Technologieschub, Neoliberalismus, Home-Office) und jene der Ökologie (Klimawandel, Infrastruktur, Flugscham) und jene der Soziologie (Gruppendynamik, Hierarchisierung der Gesellschaft, Vereinzelungseffekte, Teambuilding, Schulschließung, Didaktik) und jene der Psychologie (Stressreaktion, Depression, Empathiepotenzial, Resilienz, soziale Intelligenz) und jene der Komparatistik (Spielwiese der Kreativität, Einordnung und Analyse der maßgeblichen künstlerischen Hervorbringungen) und jene der Publizistik (Rolle des Journalismus, Meinungs- und Panikmache, Dokumentation der Berichterstattung) und jene der Linguistik (Kriegsrhetorik, Begriffsdiktatur) und alle sonst.
Eines geht dabei fließend ins andere über. Es gibt keine Disziplin, die nicht befragt, kein Feld, das nicht beackert wird. Und ausnahmslos sind es lohnenswerte Untersuchungsobjekte.
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Früher oder später wird es nötig sein, einen eigenen Wissenschaftszweig herauszubilden (ähnlich wie in Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman Solaris die Solaristik um den wundersamen Ursuppen-Planeten), der sich ganz der Erforschung des Phänomens und all seiner Teilaspekte verpflichtet. Dies ist die Geburtsstunde der Corona-Wissenschaft oder Coronaristik. (Domain-Broker aufgepasst!)
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Das Benennen und Herausbilden der Coronaristik geschieht zunächst nur im Kopf. Hier gilt es, Räume zu schaffen – Denkräume. Sterile Orte mit ausreichend Fläche. Das kreative Chaos verzettelter Schreibtische wird es neben leergefegten Seziertischen ebenfalls geben. Etwaige Umbaumaßnahmen können in Gang gesetzt werden; so manche Wand muss durchbrochen, so mancher Schwellenunterschied eingeebnet werden, um die Coronaristik so ernsthaft wie wagemutig zu betreiben. Es sich bequem machen im geistigen Großraumlabor. Schafft Platz in den Bibliotheken.
Wie erbarmungslos und präzise einen Minimal Techno voranpeitschen kann.
In der Nacht gewesen. Geweint. (Wie ein Ersatz-Kafka im Kino. Als bedrohlich geschwenkte Waffe in der Hand die leergetrunkene Weinflasche mit Whiskey – bitterer Zaubertrank für unterwegs. Weinen nicht vor Unglück oder Glück, sondern als erschöpftes Einsehen, wie poetisch alles ist. Poetisch heißt nicht leicht oder klar oder schön. Auch Celans Todesfuge ist poetisch, oder Adornos begeistert missverstandenes Bonmont, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Vielleicht heißt poetisch ja nur, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht, und dass wir dieser Tatsache anstatt mit Angst oder Flucht mit Würde und Erhabenheit begegnen. Wir sind poetisch.)
Wenn dann alles vorbei ist – was heißt alles und wann ist es vorbei?