Sind wir uns doch ehrlich: Keiner kann es mehr hören.
Aber: Keiner will etwas anderes hören.
Ganz zufällig begegne ich meinem Bruder. Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt und hängen zufällig beide um halb elf am Vormittag vor demselben Geschäft herum. Zufällig begrüßen wir uns und machen zufällig einen Spaziergang, der zufällig in dieselbe Richtung führt. Zufällig bleibt aber stets ein Sicherheitsabstand von zwei bis drei Metern zwischen uns. Wir achten zufällig sehr darauf. Zufällig haben wir beide keine allzu feuchte Aussprache. Wir gehen also zufällig eine Runde, die zufällig recht ausgiebig ist, zufällig so ungefähr eineinhalb Stunden lang.
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Wir reden über dies und das, halten uns auf dem Laufenden. Wir besprechen die Möglichkeit einer Arbeitslosenmeldung und prognostizieren eine fiese Hascherei unter den Klein- und Mittelbetrieben, aber auch zwischen den Einzelunternehmern, die jetzt vom Staat finanziell unterstützt werden sollen aus einem eilends eingerichteten Katastrophenfonds. Unbürokratisch, denken wir, heißt schnell und weniger sorgfältig geprüft als sonst. (Andererseits wird es auch Beispiele großer Integrität und pragmatischer Selbstwahrnehmung geben.)
Wir dozieren, dass sehr viele ihren Verdienstentgang geltend machen werden, obwohl ausreichende Rücklagen vorhanden sind. Ein berühmter Musiker zum Beispiel, dessen Tournee abgesagt oder verschoben wurde, dem ist zwar etwas entgangen, er braucht aber keinen sanften Fall ins Auffangnetz. Er kann es sich leisten, dass sein Geldhaufen nicht wächst – oder weniger schnell als geplant. Wünschenswert und notwendig wird sein, dass wirklich nur diejenigen ihre Hand aufhalten, die auch tatsächlich dringenden Bedarf haben. Nicht alles, was einem zusteht, muss man auch einfordern. Ob die zuständigen Beamten der Komplexität ihrer Aufgabe gewachsen sind und aus dem Stand einen gerechten Verteilungsschlüssel etablieren? (Wo wenig ist, wollen alle viel.) Ein bisschen genieren wir uns wohl, wie gut es uns geht im Vergleich zu vielen anderen.
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Mein Bruder zeigt mir stolz den kürzlich erstandenen Shakespeare, im feierlichen Orange eines originalsprachlichen Reclam-Büchleins. Zwei Preispickerl – das ursprüngliche sowie das aktuelle fürs Mängelexemplar – kleben noch am Cover. Die Sonne scheint, doch nur der halbe Gehsteig ist im Licht. Nach einer Zeit tauschen wir Seite, sodass wir beide etwas davon haben. Wir beschließen, das bald zu wiederholen. Es tut gut, meinen Bruder zu sehen, von Angesicht zu Angesicht. Wie schön, dass es Zufälle gibt. Dann ist mir zufällig kalt, außerdem muss ich zufällig aufs Klo und zufällig etwas einkaufen. Zufällig geht mein Bruder auf der Sonnenseite nach Hause.
Der Arzt-Freund relativiert seinen wohlmeinenden Hinweis bezüglich Einschränkung unserer Ernährungsgewohnheiten: „Gekochtes“ Fledermausfleisch ist gemäß diesem Wording aber völlig kosher!
Nachts in der Rotenturmstraße herrscht eine menschenleere Totenstille. Bloß ein Essensausfahrer lungert herum vor einer Konditorei, in deren Auslage er mit dem Handy etwas photographiert. Wahrscheinlich wartet er auf den nächsten Auftrag.
Ich: Schon kalt, oder?
Er: Naja, es geht. Man hat halt eine warme Jacke.
Ich: Und, viel los? Mehr als sonst?
Er: Kommt darauf an. Vor manchen Lokalen ist eine … wie heißt das?
Ich: Schlange.
Er: Ja, eine Schlange. (Er spricht korrektes Deutsch mit starkem Akzent.)
Ich: Alles Gute!
Er: Dir auch.
In der Innenstadt glitzert es aus den Geschäften. Alle Lichter sind voll aufgedreht. Es ist ja nicht so, dass plötzlich Krieg ausgebrochen und alles zerbombt wäre. Es herrscht Ordnung und Struktur. All das, was wir gerade nicht kaufen können, wird uns umso dringlicher vor die Nase gehalten. Die Stadt ist in ihrem Wohlstand erstarrt.
Eine mittelalte Frau bei einem nächtlichen Schaufensterbummel. Sie steht lange vor einem Bestattungsinstitut und sieht sich die Abbildungen der unterschiedlichen Sarg-Modelle an. Wahrscheinlich vergleicht sie die Preise. Es ist nie zu früh. Wien halt.
Fast möchte man hingehen und sagen: Gnädige Frau, da hams aber sicher noch ein bisserl Zeit! Aber wer kann das schon wissen?
Bekanntlich: Vorsicht ist die bessere Mutter der Porzellankiste als Nachsicht.
Der Österreichische Rundfunk stellt das täglich ausgestrahlte Kulturjournal ein. Stattdessen werde es ein Online-Kulturforum als Medien-Kulturraum und Plattform geben – was immer sich hinter diesem unförmigen Wortgebilde auch verbergen mag –, auf der sich Kulturschaffende dankenswerterweise von Radioredakteuren kuratiert, selbst einbringen können. Ob das so eine gute Idee ist, genau jetzt die professionelle Kulturberichterstattung auf Minimalbetrieb herunterzufahren? Kuratiert lässt sich in diesem Fall treffend übersetzen mit: Macht ihr jetzt einfach derweil unsere Arbeit, schickt uns Dinge fertig zu, wir wählen dann aus, was gefällt. Gutes Gelingen! (Wahrscheinlich ist alles ganz anders; und Halbwissen irrt sich besonders gern.)
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Eine Redakteurssprecherin rechtfertigt eloquent diesen Schritt – bei dem es sich in keinster Weise um eine Sparmaßnahme handle. Das Kulturjournal sei eine Live-Sendung, bei deren Gestaltung man im Funkhaus sein müsse – eine Person für Moderation und eine für Regie. (Moderatoren haben ja bekanntlich keine Hände.) Etwa die Hälfte des kleinen Mitarbeiterstabs hätte akute Kinderbetreuungspflichten und könne nicht von zu Hause weg. (Erstaunlich, so geht es derzeit ja sonst niemandem.) Zum Wohle der Gesamtbevölkerung wolle man die Anzahl der Funkhausbesuche möglichst gering halten. (Löblich.) Telefoninterviews im Home Office seien nur in behelfsmäßiger Qualität herzustellen. (Mit Nachsicht der Hörer ist zu rechnen.) Viele Interviewpartner würden nicht skypen. (Können oder wollen nicht, frage ich mich, und formuliere im Kopf den verwegenen Ratschlag, das Durchschnittsalter der Befragten dann doch um ein paar Jahrzehnte zu senken.) Übrigens wäre das Beste, wenn eine zivile Öffentlichkeit weiter das Bemühen unterstütze, den Österreichischen Rundfunk nicht schleichend kaputtzusparen. (Da fühle ich mich ertappt – was tue ich?) Alles valide Punkte, denke ich, und lese darin doch eine gewisse Trägheit der Institution, die man an diesem Beispiel sehr schön erkennt. Einzelpersonen sind selten das Problem, oft aber die Struktur, in der sie sich bewegen; und ich empfinde zur unbekannten Redakteurssprecherin eine stürmische Verwandtschaft. Anrufung des Radiogottes: Angenommen, nur einmal angenommen, ihr würdet improvisieren – wie viele, wie die meisten es gerade tun.
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Ich zerkugle mich vor beleidigtem Spott. So sprechen satte Menschen mit üppigen Gehältern, welche verlässlich ausgezahlt werden, denke ich, und vermisse hier jene Unbedingtheit und Unermüdlichkeit, die ich bei anderen sehe; bei Kreativen, Geschäftsleuten, Beamten, und nicht zuletzt bei meinungsfreudigen Medienmachern, die ihren Arbeitsstandort nach Hause verlagern, waghalsig mit Schnittprogrammen hantieren, daneben Kinder im schulpflichtigen Alter bespaßen, bekochen und besänftigen. (Unermüdlichkeit bis an die Grenzen des Stemmbaren ist doch wohl das Mindeste, das man von Journalisten und Protagonisten an Kulturinstitutionen jetzt erwarten können muss.) Es gibt Informations- und (nicht weniger wichtige) Zerstreuungslieferanten, die vollen Einsatz zeigen und in Eigenverantwortung gewisse Opfer bringen. An ihnen wird es liegen, zu tun, was getan werden muss.
Es sind Schleusen geöffnet, in jeder Hinsicht, dies verlangt ein konzentriertes Handeln in Echtzeit und nicht zeitversetztes Hinterherfabulieren (ein solches muss und wird es dann ebenfalls geben, in anderem Rahmen mit anderer Form). Jene Journalistenpflicht, mit wachem Ernst die Dinge einzuordnen, besteht auch darin, einen Wandel in der Kultur abzubilden und kritisch zu begleiten – während er geschieht. Manche tun es, und vor ihnen ziehe ich den Hut. Es sind die Unermüdlichen.
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(Nachtrag: So schnell kann es gehen – gestern noch sich wortreich echauffiert, heute lenkt der Radiogott nach vehementem Protest ein und rudert versöhnlich zurück: Das Kulturjournal gehe in veränderter, etwas abgespeckter Form weiter. Oft hechelt man mit dem Ausformulieren seiner Meinung den Geschehnissen um ein paar Eilmeldungen hinterher. Vielleicht sollte man sich viel öfter berechtigt echauffieren.)
Als Trost bleibt immer noch ungesunde Ernährung.
Munter weiter mit der Gschaftlhuberei!