Abends heulen wir vor Erschöpfung, und morgens erzählen wir einander bei einem gemütlichen Videochat-Kaffee, wie gut es tut, endlich wieder mehr Zeit für sich selbst zu haben.
Wir befinden uns am Anfang einer kollektiven Traumatisierung. Aus mehreren Richtungen gleichzeitig prasseln die Dinge auf uns ein, an mehreren Fronten müssen wir uns auseinandersetzen mit belastenden Ungewissheiten einerseits und mit unliebsamen Gewissheiten andererseits. Dem vielgestaltigen Input standzuhalten, erfordert ein Durchhaltevermögen nicht zuletzt der Psyche, und kann nur durch eine – ebenfalls kollektive – Kraftanstrengung gelingen. Dann – und nur dann – werden wir gestärkt daraus hervorgehen, wird sich im Nachhinein alles als Vorleistung zur heilsamen Reinigung, zur Rückbesinnung auf das Wesentliche herausstellen. (Wer betreibt den psychosozialen Dienst für die Gesellschaft? – wir alle!)
Bei der Wahl zwischen der Virus und das Virus habe ich mich diplomatisch für beides entschieden.
Der Arzt-Freund leitet nützliche Verhaltensregeln weiter: Vom Genuss von rohem Fleisch oder Blut von Wildtieren wie Schlangen, Fledermäusen etc. wird dringend abgeraten.
In Ungarn treibt man mit großen Schritten die Orbanisierung Europas voran.
Olli Schulz in Late Night Berlin: Meinst du, nur weil du länger scheißen kannst, bist du länger am Leben und glücklich, wenn du Klopapier hast? Das is so ne doofe Logik, ganz ehrlich. Und so viele Leute kommen nich raus, weil sie ein Holzbein haben oder grade sowieso schon krank sind und so.
Thomas Glavinic schreibt den Corona-Fortsetzungsroman. Genau so klingt es auch.
Dass man sich aber auch wirklich jedes Mal aufs Neue in Lisa Gadenstätter verschauen muss. (Falsch verheiratete Fernsehmoderatorin.)
Jetzt ist sogar der Letzte draufgekommen, dass man My Sharona zu My Corona verballhornen kann.
Die Welt, schreibt Wittgenstein, ist alles, was der Fall ist. Was ist der Fall?
Es gibt einen Virus, der sich rasant durch die Population unseres Planeten frisst – wohlgemerkt kein hollywoodgemäßer Horrorvirus, der weite Teile der Bevölkerung auslöscht, allerdings einer, den man auf keinen Fall unterschätzen darf. Abgesehen von den Erkrankten selbst geht es auch um den Rattenschwanz an Konsequenzen sozialer, ökonomischer und politischer Natur, die er unmittelbar und längerfristig nach sich zieht. (Statistiken erzählen eine Geschichte, Tabellen als neu entdeckte literarische Gattung.)
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Der Virus ist – so zynisch muss man sein –, gerecht. Denn vornehmlich sind es die Alten, Kranken und Geschwächten, die er sich holt. In seiner Fairness bleibt er radikal. Corona filtert sozusagen darwinistisch aus. (Was das Grauen keinesfalls mindert, es jedoch auf makabre Weise begreifbarer und erträglicher macht.)
Noch habe ich von keinem Fall gehört, wo ein Baby oder Kleinkind oder Jugendlicher verzweifelt um sein Leben kämpft. Und so wird es – aller wissenschaftlich begründeten Voraussicht nach – auch bleiben. (Die himmelschreiend ungerechte Ausnahme erwischt uns bald am falschen Fuß.) In den notdürftig zusammengeschobenen Pestlagern, den mit Lazarettbetten bestückten Mehrzweckhallen und zweckentfremdeten Sportstadien wird keine Säuglingsstation vorgesehen sein. Es sind nicht zuletzt die alten, weißen Männer, die Vorsicht walten lassen, ihre Alltagswege und -begegnungen einschränken sollten. (In China ging es vornehmlich männlichen Kettenrauchern an den Kragen.)
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Da es sich nicht um einen handelsüblichen Altersschwäche- oder Krankheitstod handelt und man erforderliche Sicherheitsmaßnahmen nur bedingt garantieren kann, ist es den Angehörigen mancherorts verboten, sich von ihren Liebsten am Sterbebett zu verabschieden; nur so wird ausgeschlossen, dass sie sich infizieren und den Erreger in weitere Gruppen einschleppen.
Der Virus ist sozusagen das Hauptgeschäft der Krise, doch bei Weitem nicht ihr einziges. Wird der Druck aufs Gesundheitswesen zu groß, müssen bei Ärzteschaft und Pflegepersonal zu viele Helfer freigestellt werden (wegen Ansteckung oder auf Verdacht), knickt es ein, kollabiert sogar in Teilen, und kann so die Versorgung aller nicht mehr gewährleisten. Es wird dann auch mich betreffen, sobald ich in ein Auto laufe und meine Notoperation nicht rechtzeitig durchgeführt werden kann. Es wird dann auch ein Kind sein, das zu lange auf eine dringend erforderliche Maßnahme wartet.
Mein Kopf versteht das alles, doch es übersteigt meinen Geist.
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Was also tun? Auf Abstand gehen, sich abschotten auf unbestimmte Zeit. Die Wirtschaft zum Erliegen bringen, Löcher in Budgets reißen, Arbeitslose generieren; die Menschen unter Hausarrest stellen, was für Alleinstehende zum unaushaltbaren Vereinzelungsprojekt werden kann, für Beziehungen und Familien zur Belastungsprobe ungewissen Ausgangs. Demokratische Grundrechte einschränken, zum eigenen Schutz und zum Wohl der Gemeinschaft. (Vorübergehend heißt: Wir werden darauf pochen, dass die Versammlungsfreiheit bis auf den letzten Millimeter in ihren Urzustand versetzt wird.) All das leuchtet mir ein, doch kann ich mir nur in den seltenen Momenten absoluter Klarheit einen Reim darauf machen. Je nach Müdigkeit erzähle ich mir auch von all dem Schönen, das es gibt.
Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man sprechen.