Tritt man einen Schritt zurück und atmet kurz durch, verinnerlicht und vergegenwärtigt und versinnbildlicht man sich alles – dann wird es bloß noch unübersichtlicher.
Ich gehe in die Nacht wie an einen Ort.
Leere ist Stille. Vielleicht sollte ich meinen Rhythmus umstellen, nachtaktiv werden wie ein Nagetier, wie der Hamster, den ich vorhabe, zu holen. Werde ich jemandem begegnen? Dort lauert ein bisschen Gestalt. Etwas hustet näher. Ein Allerweltsmann mit Rucksack. Er hustet schlimm, dass man beinah sich einschalten möchte. Er geht weiter, ist verschwunden.
Die Hauptstraße gehört nur sich. Ein Krankenwagen rauscht vorbei. Später noch einer. Wieder später noch ein Krankenwagen. Das sind sie, die Zeichen. Drei hintereinander – bringt das Glück? Allerdings liegt zwischen den Vorbeifahrten eine beträchtliche Dauer, die alles wieder recht unverdächtig erscheinen lässt. (Ein confirmation bias hat uns fest im Griff.)
In der Nacht hat man seine Ruhe. (Aber wann hat die Nacht denn einmal ihre Ruhe vor uns?)
Fern ein Mann, der langsam in seine Richtung abbiegt. Auf eine Weise kennen wir einander, Nachtstreuner unter sich. Auch er hustet stark.
Jetzt verstehe ich es: Nachts sind die Huster unterwegs, die Räusperer und Rotzaufzieher und Schleimrassler. Das leuchtet sofort ein, denn tagsüber können sie sich unmöglich auf die Straßen trauen, würden sie doch bei der kleinsten Regung sofort den Argwohn der Passanten auf sich ziehen. Abgemacht: Die Nacht gehört den Hustern.
Die Hauptstraße war noch nie so leer, und so still keine Nacht. Mehrmals höre ich es plätschern aus dem Kanal. (Venedighaft gesundet die Lagune.)
Am Markt der Anlieferer für eine Bäckerei. Wir führen ein kurzes Gespräch in erlaubter Distanz: Es gehe ihm gut, jedoch habe er gerade recht wenig zu tun, die Filialen würden derzeit nur mit einem Drittel der normalen Warenmenge ausgestattet; er habe einen Sohn, bereits erwachsen; er wohne allein; tagsüber werde geschlafen, sagt er, und alles sei ein bisschen komisch. Ein Nachtschichtleben führen, denke ich. Wir wünschen einander alles Gute und verabschieden uns.
Ein Taxi fährt vorbei. (Es sind noch Taxis unterwegs, das ist mir gestern oder vorgestern schon aufgefallen. Verlust des Zeitgefühls?) Der nächtliche Tagtraum, einfach einzusteigen wie Fritz Muliar als Bürgermeister in der Filmgroteske Muttertag, einfach am Rücksitz Platz nehmen und dem seriös bekappten Chauffeur sagen: Foans nach Kuba. Und vom Plattenbau in Alterlaa einfach nach Kuba fahren, Direktverbindung ohne Pinkelpause, einfach weg. Und ward nicht mehr gesehen.
Taxis, Krankenwagen, Lieferanten: Wäre das denn in einer Normalnacht so anders? Wohlgemerkt unter der Woche.
Am Vorplatz zum Einkaufszentrum spaziert ein Entenpaar entschieden bei roter Ampel über den Zebrastreifen. (Hier beginnt sie also, eure heroische Stadteroberung – weiter so!)
Frau Ente und Herr Enterich auf Bezirksdurchwatschelung. Die zwei sind aus dem Stadtparktümpel ausgebüchst (Anmerkung von mir an mich als Korrekturleser: ausgebüchst passt auch, aber ausgebüxt ist cooler, weil irgendwie lässig und frech.) Sie sind nicht scheu. Er bleibt auf Abstand, doch sie kommt immer näher. Die Erfahrung sagt ihr: Mensch bedeutet Brot. Sie kommt ganz nah und senkt den Kopf, ihr Schnabel glänzt so feucht; allein vom Hinsehen schmatzt es satt. Als würde die Ente mich kennen. Ich strecke meine kalten Hände aus, erst die Bleistift-Hand, dann die Notizbuch-Hand. Doch gleich weiche ich zurück, denn womöglich bin ich ihr eine heimliche Gefahr. Ob ich die Ente wohl anstecken kann? (Womit denn?, denke ich, Halskratzen Fehlanzeige.) Der Enterich hält sich zwar weiterhin im Hintergrund, wird allerdings langsam ungeduldig und möchte den Weg fortsetzen. Die Frau Gemahlin ist noch nicht so weit. Wir verweilen, unschlüssig, was mit dem anderen anzufangen ist. Und da geht mir ein Licht auf. Vielleicht, denke ich, sollte ich Tiere neu sehen. Ich richte mich auf, wende mich ab.
Ich Nachteule vor den beiläufigen Nacht-Enten. Erbauliche Begegnung. Es ist der geruhsamste, der intimste Augenblick, den ich seit einer Woche mit einem anderen Lebewesen geteilt habe. (So geht es also aus, unser glorreiches Isolationsexperiment.)
Auf der Bank eines Wartehäuschens liegt ein verwahrloster Mensch unbestimmbaren Geschlechts. Der Mensch liegt unförmig hingefläzt im engen Querformat, über sich eine flatternde Jacke drapiert. Er/sie zieht an einer Zigarette, gierig und gezwungen, wie entgegen der eigenen Lust. Vorsichtige Annäherung.
Ich: Gibt es nicht irgendwo einen Schlafplatz?
Er/sie: Komm, hau ab, das interessiert mich nicht! (Drohgebärde mit der aus dem Mund gefuchtelten Zigarette.)
Ich lasse ihn/sie mit sich allein. Vielleicht, denke ich, sollte ich Menschen neu sehen.
Ein Haubenträger joggt vorbei, mit vor Eiseskälte gerötetem Gesicht. (Instinktiv weiche ich aus – wie lange wird es dauern, bis wir uns dieses Distanzhalten nach allem wieder abgewöhnt haben? Ach, Soziologe müsste man sein. Das wird spannend.) Ich nicke dem Jogger stumm zu; sage absichtlich keinen Gruß, auf den er höflichkeitshalber antworten müsste, um ihn nicht aus seinem Atem-Rhythmus, seinem Ein-aus-ein zu bringen. Nicken ist ja noch erlaubt, und Lächeln; überhaupt müsste man eine staatliche Initiative auf den Weg bringen, um die Lächelfreudigkeit in der Bevölkerung zu erhöhen, und das Winkbewusstsein. (Sollte es als Ausgleich zum Abstandhalten nicht einfach viel lauter sein? Sollten wir nicht permanent singen und musizieren? Einige tun es. Mit Schall überträgt sich ja nichts.) Der Jogger nickt zurück. Wir grinsen uns regelrecht an – und einigen uns stumm darauf, wie absurd die Dinge eigentlich sind. Vielleicht sollte ich alles neu sehen – geduldiger, freier, zufriedener sein.
Geisterbusse fahren leer durch tote Straßen. Es ist kalt. Ich mache mich auf den Rückweg. Aus einem Fenster im dritten Stock hustet es. Ein trockenes, beharrliches, tief eingenistetes Hechelhusten. (Eine Wortwahl, als schriebe man bereits an der Pest.) Ich bleibe unwillkürlich stehen, halte inne. Stimmen sind zu hören. Es wird Leute geben, die jetzt beginnen, jedes Husten zu denunzieren.
Noch ein Jogger, im Hoodie. Wir grinsen uns an. Dialogschema: Absurd? – Absurd! Das auch genießen dürfen, denke ich, die Begegnungen mit Fremden, den unsichtbaren Zusammenhalt. Das stimmige Aufgehobensein in seiner rastlosen Nachdenklichkeit. So gern hat man plötzlich die Menschen, dass man sich überschwänglich fernhält von ihnen.
Es ist still. Es bleibt kalt. Das war die Nacht.
Mein Spiegelbild zu mir: Ein bissl zerrupft schaust du aus. (Zur Strafe fladere ich ihm das Wort.) Oder auch lustig: Du bist so müde, wie ich ausschau. Was haben wir gelacht.
Ich: Wenn alles vorbei ist, ruhe ich mich aus.
Auch ich: Solange würde ich aber nicht warten, wenn ich du wäre.
Morgen? – Aber das war doch schon!
Ich im Chat: wenn wir dann alle mal zamsitzen bei einem bier und drüber reden, was jetzt grad abläuft …
Label-Boss aus New York: ja darauf looke ich forward.
Die Normalität – als das Vorherige – wird nicht genau so wieder einkehren, doch es wird sich ein Normalzustand einpendeln. Früher, als erwartet; später, als erhofft. Viele Leute wissen noch gar nicht, dass sich danach manches verändert haben wird. Nur einmal angenommen, mit dem morgigen Tag wäre der Spuk plötzlich vorbei – selbst dann würde es sich um ein historisches Ereignis globalen Ausmaßes handeln, würden die maßgeblichen journalistischen und kreativen Hervorbringungen bis zu einem gewissen Grad Zeitdokumente sein oder Wünschelroutentriebe zur Sichtbarmachung des einen Moments. (Überschriften funkeln aus dem Archiv.) Der Spuk wird aber noch ein bisschen dauern.
Auch die Ereigniskurve hat einen natürlichen, organischen Verlauf, der nicht abrupt abbricht oder sich verflacht; Kurven haben einen Sinn für ihre Form, wollen zu Ende bringen, was sie begonnen haben als logischen Spannungsbogen. (Sie erzählen eine Geschichte, die auserzählt werden muss.) Kurven nehmen Schwung, springen ab, segeln dahin und landen schlüssig im toten Winkel des Koordinatensystems; mal steiler, mal flacher. Einzureitende Kurvenwesen, die sich aufbäumen unter zögernder Dressur, sich unwillig beringen und besänftigen lassen. (Ich zu mir als armverschränkte Sprachpolizei: Okay, passt schon. Dabei hatte ich gerade einen Lauf. Heute übertreibst du es, da ist einfach zu viel Sprache, und das wirkt so gewollt. Dem kann ich nicht widersprechen. Und die Klammern erst! Ja, eh.)
Luftsprungverdächtig: Die Büchereien Wien teilen mit, dass alle entliehenen Medien bis auf Weiteres automatisch verlängert werden. Die automatische Verlängerung bis in alle Ewigkeit: Feuchter Traum des Buchjunkies.
Allem ein paar Schritte – ein paar Tage – voraus sein. Andernfalls galoppieren einem die Ereignisse davon und wir kommen nicht hinterher. So ist man nicht Opfer der Umstände, sondern Herr der Lage.
Ich weiß schon jetzt den letzten Satz des Coronarrativ, und wann ungefähr ich ihn schreiben werde. Er lautet: –