Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder bin ich verrückt geworden oder die Welt. (Offen bleibt die Frage, was mir lieber ist.)
Einmal, ein einziges Mal nur möchte ich in einem Interview mit einem Experten die Aussage hören, eine Dunkelziffer sei niedrig.
Es heißt, die Tiere erobern sich jetzt die Städte zurück. Im klaren Wasser Venedigs dümpeln gelassen die Fische. (Es gab angeblich Delphin-Sichtungen.) Italienische Dörfer werden von Hunden und Katzen durchstreift. Ob aber die gemeine Wiener Schmutztaube das alles rechtzeitig mitbekommt und unbefangen gurrt in sonst gemiedenen Zonen? (Später dann werden sich die Menschen ihre Städte wieder von den Tieren zurückerobern. So geht es launig hin und her, von einer Pandemie zur nächsten.)
Draußen knurrt ein Hund. Ob sie es spüren?
Ich hätte mir am Montag einen Hamster kaufen sollen. (Der schmerzlich wahre Kalauer vom Hamsterkauf.) Als die Geschäfte – und damit die Tierhandlungen – noch offen hatten, wäre die Zeit gewesen, mir ein anderes Lebewesen zu besorgen, um es in meinem Unterschlupf einzuquartieren. Wie schön wäre das, jetzt ein Katzenstreichler zu sein, ein warmes Schnurren auf dem Schoß zu haben. Ob man zur Psychohygiene nicht einmal punktuell ein paar Tierhandlungen öffnen sollte? Da könnten die Leute sich eindecken mit ein paar desinfizierten Kaninchen. Als Kind hatte ich einen Angora-Hamster namens Maxi, mit einsamen Augen und einem Rexfell, das so gern verfilzte.
Das Sirenengeheul meint es plötzlich ernst.
Die Medien schaffen eine zweite Wirklichkeit. Denn die vielbeschworene Gefahr habe ich selbst nicht mit eigenen Augen gesehen – weder einen ominösen Virus, noch die Überlastung eines Gesundheitssystems, noch die Menschen aus Fleisch und Blut hinter den abstrakten Tabellen mit Arbeitslosenzahlen. Doch all das gibt es.
Nie können es mir die Medien Recht machen: Behandeln Sie das Thema, denke ich: Fällt euch denn gar nichts anderes mehr ein! Sparen sie das Thema aus, denke ich: Vergesst ihr da gerade nicht etwas? Transportieren sie eine Erregtheit, denke ich: Das ist jetzt aber kontraproduktiv. Leiert die Kommentarstimme gewichtige Verlautbarungen allzu fad herunter, denke ich: Da fehlt mir jetzt aber eine gewisse Dringlichkeit! Die Medienmacher sind derzeit meine liebsten Prügelknaben. (Selbstermahnung: Dich aber nicht zu sehr ausklinken – Bleib so gut informiert, dass du in die Lage versetzt wärst, auch andere über den Stand der Dinge aufzuklären.)
Ist es nicht bedauerlich – oder mindestens bedenklich –, dass ich von Anfang an über das Rüstzeug verfügte, mich in der Krise zurechtzufinden? Dass ich im ersten Moment ihres Herannahens umschaltete in den Krisenmodus und Bewältigungsstretegien erprobte, die mir weiterhalfen, den Ereignissen für mich eine Art von Sinn abzutrotzen. (Was bleibt einem denn auch anderes übrig, als heiter seine Niederlagen zu verwalten.)
Aufblühen an der Aufgabe – wie ein Pötzelsberger im Ibiza-Modus.
Die künstlerische oder kreative Sofortmaßnahme, muss lauten, zu verdichten. (Und Verdichtung bedeutet nicht zwangsläufig Verkürzung.) Es braucht die klare, beruhigte, gemäßigte Form, die tageweise befüllt werden kann. Noch ist alles reine Geschwindigkeit, eine wachsende Masse, die Fahrt aufnimmt und einen überrollt – es ist möglich, sich mit aller Kraft dagegenzustemmen und dagegenzuhalten, und den Schneeball zu bremsen. Es gibt den langen Atem und die aus sich selbst schöpfende Kraft. Es gibt die Unbedingtheit, mit spielerischem Ernst gegen das noch nicht wahr gewordene Wirkliche anzuschreiben. So wird aus Geschwindigkeit ein Rhythmus – und wo Musik ist, da ist auch Tanz. Gut leben – schön stolpern.
Die Sinne sind frisch gespitzt wie ein sehr harter Bleistift – in alle Richtungen präzise bereit.
Wir fragen einander, ob wir schlecht schlafen, obwohl wir die Aufgewühltheit der anderen ganz genau kennen – es ist unsere eigene.
Zu Lebzeiten – das ist ja jetzt!
Erstaunlich, wie bereitwillig sich alle haben einchineseln lassen.
Die Hundezone entwickelt sich zur Oase der Geselligkeit. Überhaupt sind seltsam oft die Gassi-Geher miteinander unterwegs. Verständlich, denn da herrscht eine unausgesprochene Verwandtschaft. Man kauderwelscht ein bisschen übers Wetter, politisiert, beratschlagt das Problem der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und des mangelnden Auslaufs, man vergleicht die Menge eingelagerten Dosenfutters und analysiert kenntnisreich den jeweiligen Stuhlgang – so jedenfalls stelle ich es mir vor. Es wird schon in Ordnung sein, dass die Hundehalter sich zusammenrotten, schließlich leben sie auf eine Art zusammen – nämlich innerhalb ihrer reichlich alltagsgebeutelten Gruppe.
Im Supermarkt herrscht gespenstische Stille. Man hält Abstand, kommt einander nicht zu nah. Wir bleiben höflich, lassen den Vortritt, zeigen unser Abbiege-Verhalten als Fußgänger mit einer Neigung des Kopfes oder einer ruhigen Geste an. Eine Frau marschiert beherzt umher, eine Harke unter die Achsel geklammt – die von der Frau wegsteht als unscheinbare Abstandswahrerin. (Frühlingsfroh sich an die Gartenarbeit machen!)
Die Stille dröhnt. Wo ist sie denn, die einlullende Plätschermusik, die einem sonst so auf die Nerven fällt? – jetzt, wo man sie braucht zur Sorgenmilderung. Kluge Filialleiter legen ihr Seelenbalsam-Mixtape ein. Die Menschengeräusche stehen für sich und stören. Ich pfeife vor mich hin wie das Kind beim furchtsamen Abstieg in den Kohlenkeller als Selbstermunterung. Im Ton liegt ein Zweifel. Glaubst du dir das Pfeifen selbst?
Beim Kassaband ist kein Trennstab mehr nötig, zwischen den Kunden – und somit zwischen ihren Produkt-Clustern ist mindestens ein Meter frei. Die Supermarktkassiere werden ab heute durch eine Plexiglasscheibe vor hustfreudigen Kontakten geschützt. Interessant, wie plötzlich über Nacht Dinge möglich sind. Man stelle sich vor, es hätte vonseiten der Arbeitnehmer (des Betriebsrats, der Gewerkschaft) die Forderung nach einer konkreten Maßnahme zur Verbesserung der Arbeitsabläufe gegeben: durch wie viele lähmende Instanzen hätte das hindurchdiskutiert werden müssen, wie viele wohlformulierte (und wohlargumentierte) Absagen hätte es da gehagelt, wie viele trüblaunige Gremien hätte das beschäftigt, bis das Ansinnen schließlich still und heimlich im Nichts versandet wäre?
Mein Vordermann erkundigt sich nach der Sinnhaftigkeit der Sicherheitsmaßnahme. Bringt nix, sagt die Supermarktfrau, völlig sinnlos, weil beim Bezahlen steht dann sowieso jeder vor mir. Der Mann nickt. (Vielleicht erhöht es ja das vielbeschworene Sicherheitsgefühl.) Ich bin an der Reihe, zahle bar, und habe großen Respekt vor ihren ernstschwarzen Latexhandschuhen. Nächstes Mal bitte lieber mit Karte, sagt sie. Ich sage: Ja, ich weiß eh.
Der Eurovision Songcontest wurde abgesagt – zwischendurch also auch gute Nachrichten, an denen man sich aufrichten kann. (Den humorlosen Missverstehern als garstiger Seitenhieb markiert.)
Humor greift zu kurz. Irgendwann kommt der Moment, wo einem das Lachen vergeht. Und wer dann nichts hat, ist verloren. Da wäre es besser, wenn man dann und wann auf einen gelassenen Ernst zurückgreifen kann – wohlgemerkt ohne zu verzagen.
Ich beneide die Politiker für ihre anhaltende Geselligkeit. Wie schön wäre es, ebenfalls hin und wieder im Sitzungssaal mit einem Krisenstab zu hocken und menschliche Nähe zu atmen. Oder ein Journalist im nach wie vor stattlich belegten Pressebereich im Verlautbarungsraum. Krawattenträger unter sich.
Ein neuer Austropopper im Messenger: Ich glaub dauernd, es ist morgen. (Meine überwachungsstaatliche Archivierung der Chatprotokolle.)
Am Telefon mit meinem Bruder. Die letzten Tage hat er damit verbracht, fernzusehen, nicht nur den heimischen, sondern verschiedene Kanäle. Etwas, das wir einander dringend ausreden sollten. Er sehe das alles ganz nüchtern, mit wenig Emotion, und so kenne ich ihn auch. Wir haben uns nun schon länger nicht mehr getroffen, jedenfalls drei bis vier Wochen, denn vor den seltsamen Zeiten herrschte die dichte Zeit, als wir alle noch jonglieren mussten mit unaufschiebbaren Terminen.
Ob es in Ordnung wäre, gemeinsam getrennt zu spazieren, also, mit dem gebotenen Sicherheitsabstand, in Rufweite? Wir sind uns einig: Lieber nicht. Was sind wir nur für elende Beschränkungsstreber. Und an uns Verrückten soll alles gesunden? (Vielleicht parallel auf gegenüberliegenden Straßenseiten spazieren und sich aus der Ferne anschreien. Vielleicht sich zufällig im Supermarkt begegnen, sich also eine Zeit ausmachen, bei der man die nötigsten Besorgungen macht. Verstohlen Blicke wechseln wie zwei heimliche Verliebte, gezischelt den Niedergang Gileads organisieren wie Offred in The Handmaid’s Tale – überhaupt die bedrückende Sterilität der Serie, zu der einem schlagartig Beispiele in der Wirklichkeit einfallen. Alles huscht als Schattenmensch von Haus zu stillem Haus, dazwischen baumeln mahnend die Erhängten.)
Was man darf und was man nicht darf: Darf man mit dem Fahrrad an den Stadtrand fahren? (Darf man das Fahrrad in der U-Bahn mitnehmen?) Darf man sich zum Zweitwohnsitz in ein anderes Bundesland begeben? Darf ich den Onkel meiner Frau besuchen, die sich beide sehr oft sehen, es also praktisch eine Art geschlossenes System bleibt? Darf mir die Nichte meines Nachbarn den Mistkübel ausleeren? Darf ich zur Arbeit gehen, wenn ich nicht muss? Darf ich dem Lieferanten helfen, den Handkarren über die Schwelle zu hieven? Darf ich meine langjährige Partnerin besuchen, obwohl wir nicht zusammen wohnen? Darf ich länger spazieren, als ich eigentlich müsste, damit mir nicht die Decke auf den Kopf fällt? Darf ich so weit und so lange spazieren, dass mir schon ganz schwindlig wird vor heißer Scham, dass ich zerspringe vor schlechtem Gewissen, über das gebotene Maß hinausgegangen zu sein? (Ein Sicherheitsbeamter beim Auswerten meiner Standortdaten: Da schau her, hat da vielleicht jemand eine Ehrenrunde gedreht?)
All das nur das eigene Dürfen. Hinzukommt das Dürfen der anderen: Darf der das überhaupt? Dürfen die eigentlich nebeneinander gehen? Darf die jetzt mit dem Auto dorthin?
Unbekümmert zetert eine Kleingruppe von Halbstarken vorbei. Ihr habt es lustig, denke ich, und werfe böse Blicke. Wie man aber auch sofort zum Blickewerfer wird, zum Besserwisser und Klugscheißer. Wie genüsslich man den Ober-Vernaderer in sich entdeckt.
Das Klatschkonzert um sechs – wer klatscht, hat Recht.
Kindliche Freude über nächtlichen Spam. Im Original bereits formatiert wie ein Gedicht:
Nehmen Sie meine Spende von 7.200.000 USD
Hallo
Helfen Sie mir dringend, meine 7,2 Billionen Dollar an zu verteilen
humanitär
Dies ist ein Akt der Spende und eine gute Wohltätigkeit, die ich gerne tun würde
vor meinem Tod
Evangelium nach Johannes, Kapitel 15, 9-17
Ich schicke es meinem Arzt-Freund zur Aufmunterung. Er dazu lapidar: Amen. (Nach zwei Tagen in vorsorglicher Quarantäne nun wieder regulär im Einsatz. Seine Schicht ist zu Ende, doch hat er keine Lust, zu plaudern: War heute auch schon wieder arbeiten. Und ich sage euch: Ich will wieder in Quarantäne. Dazu bitteres Lachen. Amen.
Haltung bewahren – allein schon aus Protest!