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1 Dienstag, 17.03.2020

Es sind neue Zeiten angebrochen. Die seltsamen Zeiten. So war der Frühling nicht gedacht.

Zum ersten Mal ein abendliches Bier mit zwei Freunden über Video-Chat. Es funktioniert erstaunlich gut, gibt kaum Zeitverzögerung. Mein Arzt-Freund befindet sich in Quarantäne, da er am Vortag eine Patientin behandeln musste, die als Verdachtsfall eingestuft ist. Er wurde getestet (oder war sie es?), wartet jetzt zu Hause das Ergebnis ab. Seine Freundin arbeitet in einer Arztpraxis, wohnt deshalb sicherheitshalber vorübergehend woanders. Denn fällt er aus, dann fällt auch sie aus. Und sind irgendwann alle ausgefallen, ist niemand mehr da, der das Gesundheitswesen am Laufen hält.
Mitten in seiner Schilderung bekomme ich einen Lachanfall. Fällt uns denn überhaupt auf, wie absurd das alles ist? Vor vier Wochen, oder noch vor zwei, hätten wir uns nicht träumen lassen, jetzt so hier zu sitzen: Virtuell verbunden in einer digital verschränkten Wohnzimmer-Welt, seelenruhig plaudernd über Virus-Tests und Quarantäne.
Der Anwalts-Freund macht Home-Office, und lebt sich darin zurecht. Er klinkt sich ein ins System der Kanzlei, wo er Zugriff auf alle nötigen Daten bekommt, dabei hält er sich streng an die Arbeitszeiten.
Wir malen uns die Zukunft aus. Mit zwei bis drei Monaten in diesem Zustand sollten wir durchaus rechnen – falls es weniger wird, können wir dann ja positiv überrascht sein. Besser als umgekehrt. Noch herrscht ein vergnüglicher Galgenhumor. Der Arzt gibt zu, er habe die Zeit genutzt, eine Patientenverfügung aufzusetzen, die er mit konkreten medizinischen Beispielen erweitert hat – nicht aus Sorge, dass sie bald zum Einsatz kommen werde, es habe sich einfach so ergeben und es sei ja gerade ein guter Anlass dafür. Sogleich erfinden wir eine Boulevard-Überschrift. Whistleblower-Arzt: Machen Sie Ihr Testament! Wäre ich ein zwielichtiger Zeitungsredakteur, würde ich seine Aussagen jedenfalls dazu verwursten. Wir lachen wie sonst auch. Noch ist ja alles ein großes Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Verstehen wir den Ernst der Lage? Wir trinken Bier und stoßen an, und für Momente ist alles beinah normal.

Digitale Vernetztheit zu nutzen, obwohl es nicht nötig ist – zum Beispiel für ein Treffen über Bildschirm innerhalb derselben Stadt –, wäre graue Dystopie; sie aber verwenden können als nützliches Instrument, um vorübergehend zu ersetzen, was anders nicht zu bewerkstelligen wäre, ist ein Segen. Ich bekreuzige mich vor dem Gott des Internets.

Die seltsamen Zeiten haben auch ihr Gutes: Endlich keine alten Verwandten mehr im Pflegeheim besuchen müssen. Zahnarzttermine fallen aus. Man darf den anstrengenden Familienfeiern unentschuldigt fernbleiben.

Ich stelle mir einen Aufruf der Bundesregierung vor: Um die Ansteckungsgefahr der Mitmenschen zu verringern, bitte bei Schlägereien keine Ohrfeigen mehr austeilen, sondern stattdessen hygienische Fußtritte geben.

Nichts verdienen, aber eh nichts ausgeben können – auch ein kosmologisches Gleichgewicht.

Am Telefon mit dem Schriftsteller (und Musiker) Alfred Goubran. Wir beide vermeintlich ganz cool. Für uns ändert sich ja derweil nicht so viel. (Mit Auftritten allerdings wird es mau.) Er hat nur etwas zu bekritteln: dass er in den letzten Tagen so wenig zum Arbeiten kommt, weil alle rundum viel zu aufgeregt sind. Statt wie sonst vier Seiten, hat er eher nur zwei übersetzt. Dann morgen halt sechs, sagt er.
Ständig soll man mit irgendwem telefonieren und sich zur Lage äußern, die Maßnahmen der Regierung einschätzen und Verhaltensweisen durchdiskutieren. Immer wollen alle wissen, wie es einem geht. Wir beide sind derzeit stark im Vorteil, denn wir können allein sein – wollen es, müssen es. Nicht ununterbrochen, doch wir kommen damit gut zurecht und suchen gezielt diesen Zustand.
Wir plaudern über Fernsehserien. Alfred gibt mir eine Empfehlung, fachsimpelt über den Unterschied zwischen amerikanischen und unseren Schauspielern, die auf eine Verständlichkeit der Sprache getrimmt sind, allerdings oft sehr wenig ausstrahlen. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Die Amerikaner wirken einfach. Er erzählt ausführlich seine Beobachtungen und Theorien, die Gedanken sind dabei so präzise formuliert, dass man sie beinah als Essay mitschreiben könnte. Entwirklichung – hat er dieses Wort so benutzt?

Es brodelt. Die seltsamen Zeiten sind eine Katastrophe, mindestens eine Herausforderung, jedenfalls ein Einschnitt. Geschäfte taumeln, Gastronomen verzweifeln, Betriebe fahren die Produktion herunter. Menschen verlieren ihre Stellen. (Bloß Supermärkte suchen händeringend nach Verstärkung.) Manche Branchen natürlich florieren: Lieferservice, digitale Lösungen, Online-Kurse. Den Selbständigen und Freischaffenden und Kulturarbeitern in meinem Umfeld geht es schlecht: Konzerte gestrichen, Lesungen abgesagt. Unsicher, wie es weitergeht. Aber es brodelt, und hier liegt die Chance.
Es gibt tausend Möglichkeiten. Mir fallen ein paar davon ein, und ich weiß nicht, wo anfangen. Jetzt ist die Zeit. Jetzt schlägt die Stunde für Lieder, für Quarantäne-Kurzfilme, für Ein-Personen-Theaterstücke. Jetzt endlich den Monolog aufführen und mitschneiden und in die Welt hinausschicken (liegen nicht ein paar davon auch in meiner Schublade?). Die Kunstszene muss explodieren vor Ideen, und das wird sie auch. Herzklopfen, kein Schlaf.
Mein Vorhaben, mich in gleichmütiger innerer Einkehr zu üben, hat sich in Luft aufgelöst. Die Idee, endlich den Proust fertigzulesen, war schöngeistig überambitioniert. Es stellt sich keine Lese-Ruhe ein, schließlich will man sich permanent informiert halten. Doch es stellt sich eine Arbeitswut ein, der unbedingte Wille, mit den seltsamen Zeiten produktiv umzugehen. Ideen ausbrüten, sie in die Tat umsetzen. Jetzt.

Kontrollanrufe: Mutter, Bruder, Cousin, Tante, Freunde – alles in Ordnung? Besorgte Heiterkeit.

Es gibt das Wort Angstgemeinschaft.

Also – sage ich zu mir selbst –, also, wenn ich du wäre, dann würde ich mich schon jetzt wappnen für den kommenden Aufschwung!